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Jacques Derrida: Was tun - mit der Frage "Was tun"?

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Vincent Sauer

Offene Entgegnung

Mit einem Vierteljahrhundert Verzögerung erscheinen zwei politische Vorträge Derridas auf Deutsch


Die Diskursindustrie boomt. Wer etwas Zeit darauf verwendet, kann in jeder größeren Stadt des Westens zur Abendunterhaltung von einem gelehrigen Menschen erfahren, wie man die Welt so richtig kritisch betrachtet. Die Stars des Theorie-Milieus schildern allerorts ihre Weltanschauung gegen gutes Geld, hetzen von Uni zu Whitecube zu Theater, um dem Publikum, das den ganzen Kram eigentlich schon aus den Büchern wissen könnte, nochmal in geselliger Runde zu verklickern, wie der Hase läuft. Das Resultat ist meistens eine Genugtuung, jetzt doch immerhin besser als der Rest zu verstehen, warum alle so unglücklich und unbefriedigt durchs Leben gehen.
    Dass in staatlich geförderten Orten der Gesellschaftskritik aber keine Revolution vom Zaun bricht, ist eine Tatsache, durch die Jacques Derrida 1994 in der Sorbonne seine Zuhörerschaft mit ihrer „Zuhörerschaft“ konfrontiert. Anstatt dem Publikum eine Wahrheit nach der andern vor den Latz zu knallen, fragt Derrida nach der alten Frage: „Was tun — mit der Frage ‚Was tun?‘“.  Den Rahmen bildete eine Diskussion mit Alain Minc, einem Autor, der regelmäßig der französischen Öffentlichkeit die Meinung geigt und damals mit dem Buch „Das neue Mittelalter“ viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war die Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dem Zerfall Jugoslawiens, was Oligarchie und Krieg bedeutete. Derrida verspürte einen Zustand, den er eine geopolitische Aporie nannte: „Nichts geht mehr und alles kann kommen.“ Dies einfach hinzunehmen und zum höchsten der Gefühle zu erklären, in dieser Situation nicht allzu schlecht dazustehen, ist seine Sache nicht. Im Gegensatz zu Debattenbüchern, die sich darin erschöpfen, zustimmendes Nicken oder empörtes Kopfschütteln zu erzeugen, ist es auch nach einem Vierteljahrhundert noch ratsam, Derrida zu lesen. Und das bedeutet, sich Zeit zu nehmen.

Zu Beginn spricht Derrida davon, dass „die Zeit kommen wird, um uns zu fehlen“ und richtet sich damit gegen die Devise der Politik, unaufhörlich „der Zeit Zeit zu geben“. „Zu denken, was kommt“, bedeutet nicht besserwisserisch über Politik zu diskutieren, sich ein Programm für die Zukunft auszumalen oder gar prophylaktische Schreckensszenarien zu zeichnen, sondern „Verantwortung neu, aufs Neue“ zu denken. Verantwortlich ist aber ein Denken, das sich nicht damit begnügt, dem schlechten Gang der Welt hinterherzudenken, sondern zur Entscheidung drängt: „Man denkt, was kommt, indem man sich fragt: ‚Was tun‘“. Die Entscheidung, die an diese Frage gekoppelt ist, muss notwendig „in der Überstürzung geschehen“, ohne jedoch als blinder Aktionis-mus offene Türen einzurennen, um nur aufzuholen in dem, was ist.

Derridas Insistieren darauf, dass diese Revolution links sein muss, jenseits der parlamentarischen Sitzordnung, ist so zu verstehen, dass sie keine alte durch eine neue herrschende Klasse ersetzen kann, der es wieder nur um Machterhaltung gehen kann.
    Am Ende des ersten Vortrags erwähnt Derrida drei Eigennamen, über die er mit dem konservativen Alain Mincs kein Einvernehmen findet: Das ist erstens „Messias“. Derrida sich richtet sich gegen Mincs Behauptung, dass nach dem Ende oder dem Scheitern des Kommunismus, man sich nun von jeder „Sehnsucht nach dem irdischen Paradies lossagen muss“. Der zweite Name lautet „Marx“. Er wird der Derrida zufolge am stärksten verdrängt, mit einem Tabu belegt, was aber auf Kosten seiner Begriffe geht, ohne die es nicht möglich ist zu verstehen, was in einer Welt kapitalistischer Produktionsverhältnisse geschieht. Der letzte Name ist „France, Frankreich“. Im Gegensatz zu Minc, glaubt Derrida an keine historische Mission einer Nation, wünscht sich nicht, dass unter ihrem Namen alles integrierbar wird, sondern erkennt in der Lektüre einer Stelle aus Victor Hugos „Les misérables“ das Denken einer „Revolution zur Revolution“ und einer „Revolution gegen die Revolution“, worunter vielleicht verstanden werden kann, dass das Versprechen der französischen Revolution sich immer noch nicht erfüllt hat und gleichsam sich jede Revolution auch gegen den bürgerlichen Staat, der auch ein Resultat der französischen Revolution war, richtet.  

In seinem zweiten Vortrag beschäftig sich Derrida zunächst mit dem „Aplomb“, was auf deutsch „Selbstvertrauen“, aber auch „Unverfrorenheit“ meinen kann.  Die Übersetzer Oliver Precht und Johannes Kleinbeck bestimmen in ihrem kenntnisreichen Nachwort, das Derridas politisches Denken skizziert, was in den Neunzigern immer wichtiger für seine Arbeit wird — den Aplomb als „Aufrichtigkeit trotz der Schieflage unabsehbarer, exorbitanter Bewegungen“. Der Aplomb besteht auch in einem „Surplomb“, einem Übermut, mit dem man der Ausweglosigkeit trotzt, die geopolitisch gezeichnet wird. Es bedeutet, sich zu trauen „schlafwandlerisch auf den Rand des abgründigen Chaos“ zuzugehen. Das Schlafwandeln, das Träumen sind aber keineswegs als Weltflucht zu verstehen, als Wahrnehmungsweisen, die einem das Leben erleichtern. Der Traum ist auch bei Lenin Thema, der wohl am bekanntesten dafür ist, in einem dicken Buch die Frage „Was tun?“ zu stellen. Für ihn ist ein Traum gut, wenn er „dem natürlichen Lauf der Dinge vorauseilt“, „die Gegenwart überholt“, also nicht befangen ist, von dem, was ist. Es geht Lenin um die Verwirklichung des „Berührungspunkts zwischen Traum und Leben“. Für Derrida schließt er damit die Zukunft dessen ein, was kommt. Ziel dieser Entsprechung, dieser Verbindung ist für Derrida eine Öffnung. Dadurch wird für ihn Gerechtigkeit möglich. Und Gerechtigkeit ist immer eine Beziehung mit dem Andern, der oder das, dem Denken nicht entspricht, es unterbricht.    

Statt eine weitere Weltanschauung auf den Markt zu werfen, mit der sich viel kritisch beäugen lässt, ohne etwas zu ändern, geht es Derrida darum, eine Haltung zu finden, die sich auch in seinem Schreiben findet, das gerade dadurch, dass es so wenig von sich aus festsetzt, sondern an andere Texte rührt und sie nochmal sprechen lässt. Die Aufrichtigkeit — sie erinnert vielleicht ein wenig an Rühmkorfs Zeile „Bleib erschütterbar — und widersteh!“ —verbietet Konzessionen an den schlechten Status Quo, der alles auffährt, um Leiden als unabwendbar zu legitimieren. Es wird der Mut gefordert, sich dem Verdrängten zu stellen, sich dabei weder der Vergangenheit zu überlassen, noch Geschichte ungeschehen machen zu wollen. Es geht darum, es durchzustehen, sich offen zu halten für den Andern. Das ist die Voraussetzung einer Beziehung, die vielleicht zu einer Begegnung wird, in der sich ein Füreinander findet, das die Verhältnisse radikal verändern muss, um zu sein.  


Jacques Derrida: Was tun – mit der Frage „Was tun“? Übersetzt von Oliver Precht und Johannes Kleinbeck. Wien (Turia + Kant) 2018. 136 Seiten. 16,00 Euro.
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