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Ivor Joseph Dvorecky: Zwei zeitgenössische Stimmen aus England

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v.l.n.r.:
David Harsent
Ludwig Steinherr
George Szirtes
Ivor Joseph Dvorecky:

ZWEI ZEITGENÖSSISCHE STIMMEN AUS ENGLAND

DAVID HARSENT UND GEORGE SZIRTES IM
LYRIK KABINETT MÜNCHEN


Die Lesung fand montags an einem lauen Sommerabend, dem 8. Juli 2019, im Münchner Lyrik Kabinett in der Amalienstraße statt. Es ist wirklich erstaunlich, dass es sich dabei um eine erste deutsche Übersetzung von David Harsent und George Szirtes handelt. Beide haben ein umfangreiches Werk vorzuweisen, und erhielten zahlreiche Auszeichnungen. Nun ist je ein Band im Allitera Verlag von ihnen erschienen, „Lieder von derselben Erde“ (David Harsent) und „Bücherverbrennung“ (George Szirtes).

Seinen ersten Preis, den Eric Gregory Award, erhielt David Harsent 1967. Die Lieder von derselben Erde, die er heute lesen wird, sind Teil des Bandes Fire Songs, für welchen er 2014 den T.S. Eliot Preis erhielt. Er ist außerdem unter den Namen Jack Curtis und David Lawrence bekannt als Kriminalautor. Beide Dichter sind unglaublich vielseitig, auch Drehbuchautoren und Librettisten. George Szirtes, in Budapest geboren, kam mit acht Jahren als Flüchtling nach England. Bereits sein erstes Buch, The Slant Door (1979) gewann den Faber Memorial Preis; für den Band Reel (2004) erhielt er den T.S. Eliot Preis.

Die Moderatorin Daniella Jancsó ist habilitierte Privatdozentin für englische Literaturwissenschaft und Übesetzerin. Aus meiner verlängerten vorderen Reihe kann ich nicht hören, ob sie sich mit George Szirtes auf Ungarisch oder Englisch unterhält, und Ludwig Steinherr, der Übersetzer der beiden vorgestellten Bücher, bemerkt amüsiert, dass David Harsent zuvor Steinherrs Gedichte ins Englische übertragen habe.

„Ludwig Steinherr hat die beiden Dichter für das deutsche Publikum entdeckt“, lobt Daniella Jancsó, und Steinherr erklärt, Dichtende seien heute zusammengerückt. Es gehe darum, an ihrem Austausch die Leserschaft teilnehmen zu lassen.

Im Internet, nach einer Schreibblockade gefragt, einem Writer's Block, sagt George Szirtes, dass er sowas nicht kenne, weil er dann übersetze. Mit The Burning of the Books, der Aneignung von Elias Canettis Roman Die Blendung, vollzog er eine Art Übertragung ins Lyrische: „Spannend“, sagt Ludwig Steinherr, „dass George Szirtes Canettis Roman nur als englische Übersetzung kennt“, und dass Steinherr dort, wo er Romanstellen erkannte, zurück auf Canettis Original gegriffen habe und in seiner Übersetzung dann kursiv markierte.

Die Moderatorin spricht Ludwig Arnold, dem verstorbenen Begründer der Lyrikedition 2000, und dem Allitera Verlag großes Lob aus für das verdienstvolle Werk von über 150 Lyrikbänden, und schließt an den Topos der Unübersetzbarkeit von Gedichten an. „Man muss eine Entsprechung bei der Übersetzung finden“, übernahm Ludwig Steinherr. Die Übersetzung sei ihm aber leichtgefallen, sobald er herausfand, dass bei Szirtes ein inneres Tempo vorherrsche. „Die Sprache muss ins Galoppieren kommen“, spielte George Szirtes auf seinen Rhythmus an, und Ludwig Steinherr bemerkte, dass er gelegentlich einen Artikel auslassen musste, damit dieser Galopp zustande komme. Und bei Harsent sei die Melodieführung entscheidend.
 
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David Harsent, der am linken Bühnenrand sitzt, steigt als erster herunter zum Lesepult. Er ist ein älterer Herr mit etwas fleischigem Gesicht, das bald leicht erröten wird, und silbernen Haaren. Dunkel gekleidet, erweckt er den Eindruck eines Predigers, zumal an dem kanzelartigen Lesepult, das von der Seite einem Schiffsgerippe mit neun Querspanten ähnelt. Im Nachwort zu den Liedern von derselben Erde schreibt Patrick Davidson Roberts, „Wenn die Flut über uns hereinbricht“, und er weiß, dass es geschehen wird, „so wird Harsents Noah von Tieren getötet und gefressen werden“. Unwillkürlich suche ich nach einem Kollar bei Harsent; und genauso ließ er das Anfangsgedicht, in klarer, britischer Aussprache, aber mit dunkler, getragener Stimme, die Enden hinauszögernd, in die Stille ausklingen.

Schweigen des langsamen Wassers, Schweigen der Rose
das den Sommer beschwerte, Schweigen des noch ungeöffneten Buches.

Keine Rückkehr dazu oder zum Stehen oder Niederstoßen
   des Falken durch Sonnenlicht,

da die Wolke brach an einem Morgen kraftloser Drift

beginnt Ludwig Steinherr im Anschluss an David Harsent seine Übersetzung des Zyklus, mit einer Stimme angeglichen an den Autor, nicht ganz so dunkel. Dunkelheit in irgendeiner Form, als Schwärze, als Dämmer ... oder gar Leuchten, ist einer der häufigsten Begriffe in Harsents Gedichten, zusammen mit Schweigen und Einsamkeit. Verschiedene Eindrücke sind mir gleich zu Beginn in den Sinn gekommen, die Stimmung bei einer Gothic Novel, dem Haunted House – very british, aber auch bei Paradise Lost und William Blake, sogar E.A. Poe oder aktueller: bei Ted Hughes. Besonders der Typus des altenglischen Predigers und Balladensängers.

Unterdessen hört George Szirtes aufmerksam zu. Er sitzt am rechten Bühnenrand, dicht an der langen Wand der Lyrikbibliothek von Babel. Später am Lesepult, einer Art neunspantigen Chanukkia, wird er verlegen nach seiner Brille tasten, ich habe die meine vergessen, und in seiner aufrechten Haltung auf dem Stuhl wirkt er auf mich wie ein Schüler und Lehrer zugleich, aufnehmend und überdenkend. Er ist leichter gebaut als der ältere David Harsent, trägt helle Kleidung, gelegentlich hebt er die Brauen, seine Mundwinkel tragen die Züge enttäuschter Humanisten. Doch beim Vortragen, am Lesepult, ist er selbstsicher und konzentriert. Er liest ebenfalls rhythmisch, die Musik spielt bei beiden Dichtern eine wichtige Rolle, aber Szirtes´ Vortrag ist schneller, pochender, als gelte es, dabei nicht stehen zu bleiben.

Schon bewegt sich die Menge auf sie zu, Täter um Täter,
Bis die Schuldigen in der Ecke stehen und ihre Abreibung bekommen.
Die Straßen berichten, auch jetzt, von Blut und Stiefeltritten,
Ladenfronten, Hauseingänge atmen noch
Die Geister derer, die hier einst standen und etwas trugen,

heißt es in Mob, dem zehnten der vierzehn Gedichte in dem Band, und auch diesmal gleicht Ludwig Steinherr den Vortrag seiner Übersetzung an das Tempo des Autors an. Die Geschichte kann nicht stehen bleiben; und derweil in Harsents Liedern von derselben Erde ein Schlussstrich unter die Menschheit gezogen wird, geht das Treiben in Szirtes Straßen weiter.

Beide Gedichtzyklen sind aus Auftragsarbeiten entstanden. „Auftragsarbeit?“, wird Daniella Jancsó gleich zu Beginn der Diskussion, im Anschluss an die Lesung, einwenden, Shelley habe in seinem Essay „The Defense of Poetry“ geschrieben, das gehe wegen der Inspiration gar nicht!

Eine Auftragsarbeit könne den Dichter in Gegenden bringen, wo er sonst nicht hinkommen würde, erklärt George Szirtes in seiner ruhigen Art. David Harsent fügt hinzu: In der Oper The Corridor (der Korridor, den Orpheus und Eurydike passieren mussten und er sich da umdreht,) lag der Auftrag vor, etwas für einen Sopran zu schreiben: – „einen wundervollen Sopran, ich hatte sechs Versuche ... also einen evolutionären Prozess. Wenn ich einen Auftrag übernehme, so suche ich etwas, das mich anspricht.“ Hier lag also die Möglichkeit vor, eine Idee zu verwirklichen, die David Harsent schon früher hatte, nämlich über den psychischen Zusammenbruch einer Frau zu schreiben.

„Ich suche nach etwas, das in mir ist“, meint auch George Szirtes – und David Harsent ergänzt gegen die Bedenken zu einer Auftragsarbeit: „Das kommt aus dem Nichts“, aus der eigenen Tiefe – er deutet dabei auf seinen Kopf und spricht über die Freiheit des Autors und dass er auch bei einem Auftrag so schreibe wie sonst auch. Die anschließende Frage nach der Arbeitsdauer beantwortet George Szirtes mit überraschenden zwei Wochen, allerdings dann einer längeren Zeit für Korrekturen. Er kehrte bei diesen Gedichten zum Stil einer früheren Schaffensphase zurück, einer spontanen, unbeherrscht drängenden Energie (the rushing energy).

George Szirtes‘ Zyklus von vierzehn Gedichten entstand auf Wunsch des Künstlers Ronald King, der ursprünglich „Die Blendung“ illustrieren wollte, aber nicht die Nutzungsrechte dafür erhielt, und nun einen eigenen Lyrikzyklus erarbeiten sollte, angelehnt an Die Blendung, die mit ihrem englischen Titel Auto da Fé die Scheiterhaufen der Inquisition in den Vordergrund rückt und anschließend zur Bücherverbrennung (The Burning of the Books) führte.

Canettis dreiteiliger Roman ist ein kulturapokalyptisches Szenario, ein grotesker Roman aus dem Wien der Vorkriegszeit mit einer expressionistischen Überzeichnung bis ins Surreale. Der Prolog, das erste Gedicht, kreist wie im Vogelflug über die Romanwelt Canettis. Beginnend mit Peter Kiens Geist (1. Ein Kopf ohne Welt), durch die Straßen mit ihrer Gewalt und den grotesken Zuständen (2. Eine Welt ohne Kopf), und zurückkehrend zum Buchgelehrten (3. Eine Welt im Kopf). Die Gedichte fokussieren einige zentrale Szenen des Romans, deren Auswahl vermutlich auch durch die Bildmontagen Ronald Kings bedingt ist.¹

George Szirtes vertieft die ausgewählten Romanstellen, umspielt assoziativ die Ränder des Geschehens, aber niemals als Ekphrase, sondern in der Absicht, etwas hervorzuholen und verständlich zu machen. Er testet die lyrischen Möglichkeiten dieser „Expansion“, auch über das Thema und die Zeit des Romans hinaus. Trotzdem ist seine Vorsicht spürbar und seine Disziplin, mit der er seine Gedanken jedes Mal zum Roman zurückführt.

Sobald ein Kind laufen und buchstabieren kann,
Ist es dem Pflaster irgendeiner schlecht angelegten Straße,
[der Ware irgendeines Händlers, der weiß der Teufel warum, sich auf Bücher geworfen hat,]
auf Ungnade ausgeliefert.
                     (5. Sobald ein Kind – in Klammern zusätzlich Elias Canetti in: Die Blendung)

„Ich bin von Natur aus kein (typischer) Romanleser“, hat George Szirtes bei der Einführung erklärt, „ich lese als Dichter, expandiere es, unterstreiche Stellen, setzte sie neu zusammen.“ Gleich am Romanfang muss er eine solche Stelle gefunden haben:

Sobald ein Kind laufen und buchstabieren kann,
Ist es dem Pflaster irgendeiner schlecht angelegten Straße
Auf Ungnade ausgeliefert, wo andere hüpfen
In Quadraten zwischen Gittern mit Zahlen
Oder seilspringen und Sinnloses brüllen
unter unerklärlichen Sternsystemen

Oder er stattet die Straße mit lyrischen Bildern wie Grosz-Bettlern und Dix-Verwundeten aus anderen Kulturbereichen der Gegenwart aus, und im Gedicht Das Irrenhaus knüpft er Verbindungen über die Zeit des Nationalsozialismus, den der Roman, 1936 publiziert, zum Teil vorwegnahm, bis hin zu Dürrenmatts Verkehrung von Irrsinn und Normalität:

Da ist nichts Irres am Irrenhaus, Vernunft ist Standard.
[…]
Natur ist Irrsinn mit Methode und darum umso irrsinniger.
Kultur ist Irrsinn, den jeder als Erbe empfängt.
Wissenschaft ist Irrsinn im Liebesspiel mit Zahlen

Im Gegensatz zu David Harsents Gedichten ist Szirtes‘ Bücherverbrennung ein vielstimmiger Zyklus. Vier Ich-Stimmen kommen zu Wort:

Der Gelehrte Peter Kien: /„Ich bin Professor […] / Die Worte der Toten lassen sich nieder über mir. / Ich treibe zwischen ihnen, schwerelos / Wie ein Heliumballon, blicke herab auf die Gosse“/; dann die Haushälterin: / „Ich habe meine Erinnerungen, und Erinnerung ist der Stuhl, / Auf dem ich gesessen habe […] / Was mir meinen Platz einräumt und mich verschluckt, ist dieser Stuhl“/; sowie der buckelige schachspielende Zwerg: / „Ich mag ein Zwerg sein, eine kleine Schachfigur […] / Andere mögen weiter von Ideologien plappern […] / Doch ich bin Stratege“/; und schließlich der lyrische Erzähler:

Ein tiefer Bass, die Stimme meines Vaters,
die brechende Stimme, unscharf, schlecht gestimmt.
Es ist dieses Singen, dem ich die meiste Zeit lausche,
Wenn ich ihn sehe, diese zwei Augen sind es – schwarz, ruhig, traurig -

Dieses eine Mal sagt der Dichter Ich, die Erinnerung an seinen Vater tritt hinter der Beschreibung des buckligen Zwergs hervor und sie fühlt sich an wie in Betrachtung einer vergilbten Photographie.

Jede der Romanpersonen bestreitet das Leben auf eigene Art, jede lebt in ihrer eigenen Welt, hat sich darin eingerichtet und eine Meisterschaft erlangt, die sie unerreichbar macht für andere. Durch Fokussierung und Scharfzeichnung verdeutlicht George Szirtes: Canettis Roman handelt vom Scheitern der Kommunikation.

Während George Szirtes liest, bewegt er im Leserhythmus die Kniee und schaukelt mit dem Kopf Richtung Text, lauscht David Harsent oben auf der Bühne, die Wange auf die Faust gestützt, aber ganz Ohr für die Stimme am Pult. Oder nur auf die Melodie im Deutschen jetzt, sobald Ludwig Steinherr mit seiner Übersetzung beginnt. David Harsents Melodieführung ist anders, düsterer, heraufbeschwörend, ein Canto. Eine Immersion seelischer Untiefen, worin Rhythmus und Melodie als Ariadne-Faden durchklingen, sie evozieren eine Landschaft – ich habe den Gedanken an das Epische von Wuthering Heights in mir vertrieben – und halten in Bildfragmenten eine letzte Ordnung aufrecht. Das ist ein moderner Aspekt bei beiden Dichtern, die sicherlich keine postmodernen Autoren sind, dass die Form sich gegen das Auseinanderfallen des Inhalts wehrt, aber David Harsent verwendet seine Melodizität auch als Eingangstor ins Bewusstsein des Publikums, die Alliterationen und die Magie von Assonanzen.²

„Alles muss Musik sein ... die Musik ist Maßstab“, hat David Harsent schon vor seiner Lesung gesagt, seine Gedichte existierten im Grunde deshalb bereits vor der Auftragsarbeit im Musikalischen, aber auch zusätzliche „habe ich mit Musik im Kopf geschrieben.“ Der Librettist weiß um die dramatische Wirkung seiner Stimme. Zum Abschluss, nach der Diskussion, werden beide Dichter noch etwas außerhalb der beiden Bücher lesen, das nicht übersetzt ist. Ross: Children of the Ghetto hat George Szirtes ausgewählt, vorher aber liest David Harsent, und er gibt als Regienanweisung, ihn bei den Pausen seiner kurzen Gedichte nicht anzuschauen: Die Lücken, erklärt er, seien eine Trennung, den Anwesenden empfiehlt er, lieber auf den Stuhl vor sich zu blicken, oder „whatever“, sonst überhörten sie den Einsatz der Stimme aus der Stille. So liest er Kurzgedichte aus seinem neuesten Gedichtband „Salt“, der vom Feuer handelt und vom Untergang.

Die Musikalität von George Szirtes ist drängend, galoppierend. Auch David Harsent erzählt in seinem Zyklus zwar keine Geschichte, aber er verwendet Gedicht für Gedicht Begriffe, die frei wiederkehren, gemäß jenes Stils der Serial Poetry („Series not sequences“, hat er vor der Lesung über seine Gedichte gesagt, weniger kausal), und doch haben die Songs from the Same Earth Begegnungen und Trennungen:

Deine Stimme und Meine durch die Nacht,
etwas sehr Inniges, Schilderung der Einsamkeit …

Die Räume zwischen uns so zerbrechlich

sowie ein dramatisches Ende:

Mein letzter Blick auf dich wird geschehn,
  wenn du am Fenster vorübergehst,
dein Schaun-und-Wegschaun ein jähes Aufglimmen im Glas.

Kein einziges Mal kommt in den zehn Gedichten Harsents das Wort Ich vor, und nur an beiden Stellen, Anfang und Ende, tritt die erste Person in Erscheinung. Wer ist diese Person?

in dem eine Gestalt, aus Schwärze geschnitten, am Rand der Dinge stand,
einen Arm erhoben zum Gruß oder zur Warnung.

Und wer die Adressatin, deren eigene Worte nur im siebten Gedicht aufscheinen?

Ein Raum von Mündern, die deinen Namen formten, sagtest du;
dann ein Käfig aus Glas, wo dein Bild zu dir selbst gerann.

Eine Frau, die einen Nervenzusammenbruch erleidet, hat David Harsent gesagt (the story of a woman […] an emotional collapse), doch diese Metapher assoziiert zugleich die Bestie Mensch – ihre Kriege, und im Zusammenhang mit dem neuen Gedichtband „Salt“ die Angst vor einer Klimakatastrophe. „Es ist immer in meinem Hinterkopf“, wird David Harsent bei der Besprechung nochmals betonen, „ich habe Enkelkinder.“

Woher nimmt diese Stimme die Freiheit von jedwedem Selbstzweifel oder ironischer Distanz? Wie kommt David Harsent zu diesem apodiktischen Ton und seiner apokalyptischen Weltsicht?

Durch die Schrecken der Geschichte wohl, David Harsent übersetzte Giannis Ritsos und Goran Simić, und er war in Sarajewo, daraus entstand das Band Legion über einen unbenannten Krieg. Allerdings haben Ritsos und Simić die Gewalt selbst körperlich erlebt, und sie schreiben unmittelbar. Hingegen schreibt David Harsent aus der Reflexion und seine Authentizität hängt an der Tiefe des inneren Miterlebens.

Im umfangreichen Anhang zu den Liedern von derselben Erde schreibt Patrick Davidson Roberts, David Harsent sei in der Konfession der Baptisten erzogen worden – einer radikal-reformatorischen christlichen Glaubensschule, für die Gewaltlosigkeit, Schuld und Bekenntnis grundsätzlich sind –, verstehe sich heute aber als unbeugsamer Agnostiker.´

Die Frage der Schuld ist beiden Gedichtzyklen gemeinsam und deswegen auch beider Blick auf die Vergangenheit gerichtet, doch während in der Bücherverbrennung nur zwei Fragen gestellt werden, eine an den Bibliothekar, ob er die Welt ausreichend erforscht habe, und eine zweite, die sich der Bibliothekar Kien selber stellt: „Betrachte das Fleisch. Bist du nicht besser dran ohne?“/, betreibt die Stimme in den Liedern eine Inquisition bis in das Privateste.

Wer ist er, das Messer in der Hand, der Mann der leeren Straßen
[…]
Woher nahmst du seine Erscheinungen?
Könntest du ihn in der Menge ausmachen? Ist da eine leere Seite,

solo, im Familienalbum? Kam er zu deiner Hochzeit
mit Scheren zum Geschenk und trug ein Sträußchen Weißdorn angesteckt?
[…]
Ist dies seine einzige Stimme – jene, die du am besten erinnerst
aus jener Zeit, als du stets im Haus bliebst und schliefst

bis die frühe Dunkelheit dich weckte?
Dachtest du, er könnte dein Freund werden, zur Not?

Nein ... Aber da ist er, wartend am Pfad, der dich hinunterführt
aus dem Licht …

Woher also spricht diese Stimme mit dem Du wie Gott zuerst im Paradies? Die Rückschau, die sie beschwört, gleicht jener, die an Sterbenden vorüberzieht, aber diese richterliche Stimme geht in ihrer Allwissenheit über das persönliche Gewissen hinaus. Und zuletzt fällt sie ein Urteil von unentrinnbarer Hoffnungslosigkeit.

Für David Harsents heiligen Zorn sehe ich den Humanismus allein nicht als ausreichend. Wenn Patrick Davidson Roberts berichtet, Harsent sei Agnostiker, so glaube ich ihm nicht. David Harsent ist nicht ein Agnostiker, der Gott nicht kennt, sondern jemand, der Gottes Abwesenheit kennt. Theologen haben immer schon darauf verwiesen: Die Vorstellung vom Höllenfeuer ist naiv und unnötig, die Qualen der Hölle bestehen in der Abwesenheit Gottes, welche radikale Liebesferne ist – wer diese Liebe verloren hat, hat sich von sich selbst und seinen Möglichkeiten unendlich entfernt (in der wirklichen Hölle geschieht das unaufhörlich). Dies ist die schlimmste Strafe für eine Person nach dem Ebenbild Gottes, – nicht für die Natur, – nicht für reine Intelligenz (welche Satan im Übermaß besitzt).

Gott ist erstaunlich präsent in beiden Gedichtzyklen, wenn auch außerhalb der Sichtweite, aber es verbleibt ein biblisches Koordinatensystem (ebenso bei Canettis Roman): Der Geist, die Schrift, die Flammen ... die Frage der Schuld. In der Bücherverbrennung scheint Gott gerade den Raum verlassen zu haben:

             […] Doch die Imagination des Menschen ist böse,
    sagt das Wort
Des Gottes in der Lobby, dessen Schritte immer noch zu hören sind
     Auf der Treppe nach oben. Er wartet an der Tür, den Finger an der
Klingel

David Harsents letztes Gedicht dagegen ist eine Verurteilung des Menschen zur endgültigen Gottesferne:

Als die ganze Herde sich wie ein Tier erhob;
als du begannst, das Licht zu verlieren; als der Mond

auf der Skyline umkippte; …
[…]
da waren Worte, die du niemals sagen oder hören wolltest; …
[…]
Mein letzter Blick auf dich wird geschehn,
       wenn du am Fenster vorübergehst,
dein Schaun-und-Wegschaun ein jähes Aufglimmen im Glas.

Die Wiederkehr dieser Stimme, die mit Du anredet, bezeichnet das letzte Gericht. Gott hat das Band gelöst. Natürlich will David Harsent aufrütteln, mit diesem Abgesang an die Bestie Mensch, die Normalität der Gewalt verstören, und sagt selbst, dass er nicht über eine persönliche Conditio schreibt: „Wenn es persönlich wäre, dann wäre ich tot.“ Und doch scheint mir in seinem Anspruch an den Menschen und dessen Beziehung zur Natur etwas von (parallel dazu) einer ursprünglich-göttlichen Natur zu liegen, einer Natur vor dem Sündenfall; die sich nun des Menschen entledigt:

Ein Sturm, der sich vom Horizont erhebt – und du mitten drin,
Glast und Gebrüll, Krach der Atome,

und ein Rad von Vögeln im stillen Auge, kaum sich drehend,
gleich dir in deinem fremden, todernsten Tanz.

„Ich bin mir der Natur weniger bewusst als David“, seufzt da George Szirtes, „es tut mir leid, das ist mein Fehler.“ Jenes Feuer, das in David Harsents zehn Gedichten zum Ende führt – übrigens kommt es darin als Wort gar nicht vor, es heißt Einsamkeit – ist es in George Szirtes‘ Bücherverbrennung Teil eines historischen Prozesses: Feuer und Straßen und der Mob und die Bibliotheken. In der abrahamitischen Tradition ist das Feuer eine Begleiterscheinung des Göttlichen: das Licht, der brennende Busch – oder als Strafe: das Höllenfeuer. In beiden Fällen verzehrt es sich nicht. Das Feuer, das die Menschen legen, ist verzehrend: als Opfer, als Reinigung - als Scheiterhaufen.

Doch gibt es Ausnahmen: /„Ideen sind ewig / Und sogar das Streichholz, das ich an diese Seite halte, ist machtlos“/, und als später die Moderatorin Erich Kästner zitieren wird: „Bücher können nicht verbrannt werden“, wird George Szirtes ihr zustimmen, sich seinerseits auf Ossip Mandelstam beziehend: „Man kann Bücher anzünden, aber Bücher besitzen einen Weg zu entkommen. Bücherverbrennung ist ein symbolischer Akt ... die Sachen überleben, weil wir überleben.“ – „Genau das können Bücher tun!“, wird auch David Harsent sagen, und damit den geschundenen Giannis Ritsos meinen, dessen Bücher ebenfalls verbrannt wurden, „ein Spucken ins Gesicht des Henkers ... die Leute werden es lesen!“

Das ist der Tannenreiter, der seine Faust an die Wolken donnert.
Unser Wind ist es, unser Wind.
Bauern, denen sie die Häuser verbrannt haben -
mit dem letzten Dachbalken fingen auch ihre Herzen Feuer
rittlings auf ihrem Feuer reiten sie hinauf in die Berge,
Mütter, denen sie ihre Kinder verbrannt haben -
tragen den Tod rittlings auf ihrem Feuer hinauf.
    (Giannis Ritsos: Die Nachbarschften der Welt, 1951. Übertragen von Erasmus Schöfer, Romiosini Verlag)

Aber noch liest Ludwig Steinherr, und George Szirtes hört aufmerksam zu, geht körperlich bei jedem Taktschlag in jeder Zeile der deutschen Übersetzung seiner Gedichte mit, sodass man überzeugt sein muss, er verstehe sie. In wenigen Minuten aber, wenn er mit aufgehelltem Gesicht seine „Freude an der Übersetzung – ihrer Musik“ bekundet haben wird, gesteht er mit einem Anflug von Bedauern: „I cannot read or speak German!“

Indessen, während ich noch dem Gedanken nachhänge, warum Gott die Hand an der Klingel und nicht an der Klinke hält, kommt Ludwig Steinherr zu den letzten Zeilen des Postscriptums:

                                          […] das Feuer ist vieldeutig,
Doch kann interpretiert werden vom sorgfältigen Leser
Durch klare Klassifikation der Texte, auf die es referiert,
Durch eine einzige Fußnote, scharf wie ein Haifischzahn,
Durch unablässiges Studium in den geeigneten Bibliotheken,

Diesen brennenden Orten des Intellekts, wo die Augen
Vertrocknen und sich Barbaren versammeln mit Fackeln
Und Reihe um Reihe Regale in Flammen tauchen und Zungen
Und Fußnoten lodern wie stets, das ist ihre Natur, in den Straßen
Der Stadt, die immer brennen muss und die sich öffnet wie ein brennendes Buch im Feuer.


¹ 1 Ronald Kings Bilder zum Buch:² Bild von Simon Harsent, dem ältesten Sohn David Harsents:


David Harsent: Lieder von derselben Erde. Songs from the Same Earth. Englisch / deutsch. Übersetzt von Ludwig Steinherr. München (Allitera Verlag - Lyrikedition 2000) 2019. 44 Seiten. 10.00 Euro.

George Szirtes: Bücherverbrennung. The Burning of the Books. Englisch / deutsch. Übersetzt von Ludwig Steinherr. München (Allitera Verlag - Lyrikedition 2000) 2019. 56 Seiten. 10,00 Euro.
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