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Ivor Joseph Dvorecky: Hermann Hesses "Glasperlenspiel"

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Ivor Joseph Dvorecky



Hermann Hesses “Glasperlenspiel”




I


Das Glasperlenspiel ist Hermann Hesses letzter großer und philosophisch anspruchsvollster Roman. Die bekannteste Zeile daraus, Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, fällt Josef Knecht kurz vor seinem Ableben ein, ohne zu wissen, bei welchem Dichter er sie einst gelesen habe, und so oder ähnlich dürfte es dem Leser von damals heute auch ergehen. Der Roman ist Hesses persönliche Zusammenschau von Kunst, Wissenschaft, Religion und Weltgeschichte, sein aktueller Entstehungsgrund die apokalyptische Raserei des Nationalsozialismus - der eigentliche Anlass der „Untergang des Abendlandes“, wie ihn der Kulturpessimismus seit dem 19. Jh. prophezeit – der Nationalsozialismus ist sein vorzügliches Argument.
    Im Augenblick des Triumphes der Naturwissenschaft über die Welt zerfielen gewissermaßen zugleich Raum und Zeit, welchen Isaac Newton die göttlichen Eigenschaften der Unbegrenztheit und Unvergänglichkeit bescheinigt hatte, es zerfielen die Materie und das Ich als Identitäten. Eine seit Jahrhunderten verdrängte Triebhaftigkeit dahinter wurde offenbar. Als ein erstes Symptom des Sinnverlustes durch die schier unüberschaubare Menge an Wissen galten die beiden hoffnungslosen Pariser Kopisten Bouvard et Pécuchet. Zwei Jahre später erschien 1883 Also sprach Zarathustra. Eine Elite quer durch Europa identifizierte sich mit Nietzsches dionysischer Ablehnung einer aufgesetzten Rationalität. Und in Teilen der Gesellschaft trat eine Vielfalt antimaterialistischer Zirkel aus dem Untergrund. Trotz ihrer Unterschiede stimmten diese im Wesentlichen überein: einem Weltbild polarer Gegensätze von Geist und Materie.

Der Roman entstand nach Hesses Worten aus der Idee einer interdisziplinären lingua sacra, einem Spiel mit allen Kulturinhalten der Menschheit: "Es ist der enzyklopädische Gedanke, mit dem das ganze achtzehnte Jahrhundert gespielt hat", ruft Pater Jacobus aus, als Josef Knecht ihm das Glasperlenspiel erstmalig erläutert. – "Er ist es", pflichtet der Kastalier ihm bei. Als Ziel des Glasperlenspiels könnte ein Ausgleich gegenüber dem sich ausbreitenden Sinnverlust an der Schwelle zwischen einer endenden alten und dem Beginn einer neuen Epoche gesehen werden, darin weist der Roman Berührungspunkte mit dem Quijote auf.
    Hermann Hesse, der das Automobil mied, allerdings Zeppelin und Flugzeug feierte, spricht im Glasperlenspiel von einem Symptom des Entsetzens, das den Geist befiel, als er sich am Ende einer Epoche scheinbaren Siegens und Gedeihens plötzlich dem Nichts gegenüber fand. Josef Knechts anonymer Biograph beschreibt die Moderne rückblickend als das "feuilletonistische Zeitalter" und entsetzt sich über solche Oberflächlichkeiten seiner Tagespresse wie: "Die Versuche zur chemisch-physikalischen Beeinflussung der Witterung" oder eine Diskussion über "die mutmaßlichen Ursachen von Finanzkrisen". Der Bohémien Hesse beklagt die bürgerlichen Freiheiten der Epoche, der Einzelgänger den Kult des Individualismus, der Künstler (Aquarellist) die dilettantische Überproduktion des Bildungsbürgertums. Sinnbildlich für dessen geistlose Tändeleien steht für Hesse das Kreuzworträtsel – ein abscheuliches Spiel mit allen Kulturinhalten.
    Wie viele Schriftsteller, die mehr schlecht von Zeitungsbeiträgen und Fragmenten lebten, kämpfte auch Hesse munter mit tausenden von Rezensionen in dutzenden Zeitschriften gegen die geistige Unechtheit des modernen Lebens an. Stets urteilte er milde, aus einem Standpunkt zeitloser Wahrheit. Über das, was er ablehnte, schwieg er. Die Schärfe seiner Kritiker wie Robert Musil oder Gottfried Benn vergalt er mit höflicher Wertschätzung ihrer Werke.
    Nach eigenen Angaben hat Hermann Hesse den Roman bereits 1930 begonnen. Die Machtergreifung des Nationalsozialismus, zu dessen erste Opfer auch das Feuilleton gehörte, bekam für den Schriftsteller eine existentielle Bedeutung:

Ich mußte, der grinsenden Gegenwart zum Trotz, das Reich des Geistes und der Seele als existent und unüberwindlich sichtbar machen, so wurde meine Dichtung zur Utopie, das Bild wurde in die Zukunft projiziert, die üble Gegenwart in eine überstandene Vergangenheit gebannt. Und zu meiner eigenen Überraschung entstand die kastalische Welt wie von selbst.



II


Das Goethes pädagogischer Provinz nachempfundene Kastalien ist sowohl Gegenentwurf zu einer modernen, nutzenorientierten Gesellschaft wie zu den nationalsozialistischen Erziehungsanstalten, den Napolas. Kastalien, eine Mischung aus mittelalterlicher Klosteruniversität und platonischer Akademie, gestaltet sich nach dem 18. Jahrhundert und romantischen Vorstellungen eines Novalis. In Kastalien und Umland begegnen dem Leser Sujets aus Hermann Hesses früheren Werken: eine Welt ohne nennenswerte Frauen, Meister-Schüler-Verhältnis, weise alte Männer, die Bündner – jahrhundertealte Bruderschaften, tausendjährige Klöster, abertausendjährige Traditionen. Wie üblich bei Gesellschaften, die sich im Besitz überlegener Wahrheiten wissen, weist auch Kastalien totalitäre Züge auf: eine Elite, strenge Auswahlkriterien und Disziplin, Obrigkeitsverehrung und Hierarchie; zwar freiwillig, doch wer den Vorstellungen des Ordens nicht entspricht, wird vom Zugang zum höchsten Wissen ausgeschlossen.
    Kastalien, das eine ganzheitliche Provinz des Geistes sein möchte, hat nicht mal die Größe einer Stadt. Hier gilt Aristoteles’ Wort, dass ähnliche Menschen keine Stadt zuwege bringen. Kastalien und die äußere Welt erinnern an die fatale Abgrenzung mittelalterlicher Städte vom Umland, in der Trennung eines Schutzraums geistiger Ordnung im Zentrum von der Willkür außerhalb, von Innen – denn nichts anderes ist Kastalien – und Außen
¹.
    Kastalien, heilig und kritikbedürftig, wird einmal vergehen, weiß der Magister Ludi Josephus Knecht, so wie auch die Moderne einmal vergangen ist. Doch meint Hesse damit nur ihre zeitlichen Erscheinungsformen. Denn als Prinzip sind Kastalien und die Welt des Feuilletons zwei Pole des bewährten dualistischen Weltbilds von Yin und Yang, von Geist und Materie, von Form und Inhalt, auch wenn Hesse das universalistische Kastalien in eine zeitenthobene Zukunft verlegt, während er das nominalistische Feuilleton in einem genauen Zeitpunkt der Geschichte verankern muss. Beide existieren immer und gleichzeitig: Die anti-kastalischen Tendenzen außerhalb seines Horizonts reflektieren die Anwesenheit der feuilletonistischen Welt – genauso gab es in der Moderne immer "Kastalier", zu denen Hermann Hesse in Gestalt des Plinius Ziegenhalß humorvoll sich selbst zählt.
    Wenn ein weltfremdes Kastalien vergeistigt abstirbt, in einer ungewissen Zukunft, so ist es das Produkt der noch immer wirkenden feuilletonistischen Epoche, und es mangelt ihr, wie der sonst wohlmeinende Hans Mayer
² eingesteht, einer geistig befreienden, integrierenden Kraft. Darum dürfen die Kastalier in keiner der Kulturdisziplinen, die sie so meisterhaft durchschreiten, Inhalte schaffen, denn solche würden erneute Fragmentierung bedeuten. Dem kastalischen Orden ist das archetypische Zeugungsverbot auferlegt³. Auf der Suche nach dem übergeordnet Gemeinsamen untersuchen die Ordensbrüder Musik oder Literatur von Epochen, komponieren selbst aber kein Blockflötenstück, und auch ernsthaftes Dichten ist seit Jahrhunderten verpönt. Den Studenten ist jede künstlerische Eigenschöpfung untersagt, mit Ausnahme des Schreibens fiktiver Lebensläufe. Kastaliens Bestimmung ist es, in der Verschiedenheit des Ausdrucks das Verbindende zu finden, die Idee dahinter - Transzendieren ist das Schlüsselprinzip des Romans und eins, das Josef Knecht verinnerlicht wie kein anderes, – ihm alleine bleibt er bis zuletzt treu.


III


Das vollkommene Instrument dieser Zusammenschau, das die kastalische Elite virtuos handhabt, ist das Glasperlenspiel. Erwartungsgemäß hat es keinen eigentlichen Anfang, als Überlieferung dient nur eine Art musikalischer Abakus mit farbigen Glasperlen. In seiner heutigen Erscheinungsform entstand es hauptsächlich aus drei Quellen: der Mathematik, dem Denken reiner Ideen; der Musik, dem Empfinden reiner Ideen; und der Meditation, die reine Ideen transzendiert. Hesses vage Beschreibung ist dabei nicht unproblematisch: Die Entwicklung der Regeln sei abgeschlossen, sagt er, doch träume jeder Spieler davon, das Spiel mit eigenen Symbolen zu erweitern. Das Glasperlenspiel ist mit seinen Zeichen, Axiomen und Regeln ein formales System, demnach entweder Abbildungssystem (Mathematik) oder Spiel (Schach).
    Für den kastalischen Studenten Knecht ist diese Unterscheidung von existentieller  Bedeutung:

Und damit stand er vor der alten, quälenden Frage: war dieses Spiel wirklich das Höchste, war es wirklich Königin im geistigen Reich? War es nicht, trotz allem und allem, am Ende doch, nur ein Spiel?


    Hermann Hesse unternimmt einige Anstrengungen, den Leser von der Herkunft des Glasperlenspiels als Abstraktion aus der Alltagswelt zu überzeugen, was auch notwendig ist angesichts der schwindelerregenden Fähigkeit des Spiels, Gemeinsamkeiten in Gesetzen der Grammatik und Axiomen der Geometrie zu entdecken oder Analogien zu finden zwischen den Wandlungen eines Mythos, den Sätzen einer Sonate aus dem 17. Jahrhundert und den Sprüchen des Kung Fu Tse. Dem beunruhigten Leser wird versichert, in der Ausbildung der jungen Spieler werde unendlicher Wert auf etwaige Fallen der Selbsttäuschung durch unzulässige Abstraktionen und Analogien gelegt.
    Mit dem Spiel der Spiele gehen die kastalischen Schüler in Minuten den Weg von Jahrhunderten, sie sehen Aufstieg, Blüte und Niedergang von Kulturen, wohnen dem Schauspiel der Vergänglichkeit bei, bewahrt im Code des unvergleichlichen Spiels, das die Gesetze des Universums widerspiegelt. Josef Knecht wird vom Glasperlenspiel bis ins Innerste erschüttert; doch Hesse möchte seine Leser von der Sinnhaftigkeit des Spiels ganz überzeugen und beauftragt den Protagonisten mit einer unmöglichen Aufgabe: Indem Knecht in jahrelanger Arbeit aus einer bestimmten Glasperlenpartie den Inhalt rekonstruieren muss, vergewissert er sich davon, wie und dass darin die ursprüngliche Wirklichkeit eingefangen bleibt.


IV


In Josef Knechts Kastalien gibt es zwei Spielertypen: den formalen und den psychologischen. Zu Hesses Zeit sprach Theodor W. Adorno von zwei Entwicklungen in der Kunst der Moderne: Für die progressive stehe Arnold Schönberg und das formalistische Zwölftonsystem, dessen recht willkürliche Regeln ein Ordnungsprinzip gegen das drohende Chaos durch Aufhebung der Tonalität darstellt. – Der Kopist Igor Strawinsky hingegen gehöre dem Neoklassizismus an. Adorno warf Strawinsky die Verwendung alter Musikinhalte ohne den Gebrauch von Ironie und Spott vor – so, wie die Moderne (wie Adrian Leverkühn) es fordert. Der alte Magister Ludi des Glasperlenspiels, Thomas von der Trave, gehört der formalen Richtung an, und Thomas Mann muss gelächelt haben, als er sich in seiner Beschreibung erkannte (und wenn nicht hier, so spätestens bei der Knabenschilderung zum Schluss). In der Widmung des Dr. Faustus, die er Hermann Hesse zugeeignet hatte, bezeichnete Thomas Mann seinen Roman als ein Glasperlenspiel mit schwarzen Perlen; dagegen soll unter den Büchern, die Hermann Hesse kurz vor seinem Tode gelesen hat, zuletzt eine musikästhetische Schrift von Igor Strawinsky gewesen sein. Josef Knecht, der künftige Magister Ludi, ist Anhänger der psychologischen Spielschule, die er lieber die pädagogische nennt. Seine minuziöse Erforschung des Spiels befähigt ihn, wie es kein anderer Kastalier vermag, das Wesen des Glasperlenspiels zu erfassen: Zwar führt jedes seiner Symbole und jede Kombination von Symbolen ins Geheimnis und das Innerste der Welt, doch verfehlt das Spiel ohne eine Deutung im Nacherleben seine Bestimmung und verkommt so zum bloßen Virtuosentum.

"Das Ganze des Lebens, des physischen wie des geistigen, ist ein dynamisches Phänomen, von welchem das Glasperlenspiel im Grunde nur die ästhetische Seite erfaßt, und zwar erfaßt es sie vorwiegend im Bild rhythmischer Vorgänge." Für die psychologische Schule gehört die Meditation unabdingbar zum Spiel dazu und damit etwas, das sich nicht im Glasperlenspiel sondern im Spieler ereignen muss. Die psychologischen Spieler transzendieren die Rationalität des Spieles, indem sie es mit metaphysischen Inhalten aufladen. – Sie stehen damit in der Nachfolge der Pythagoreer, des I-Ging, der Astrologie und Alchemie, eines Raimundus Lullus usf.

In unserem sinnlich wahrnehmbaren Universum – einem, das den strengen Bedingungen der Dualität nicht genügen kann – entsprechen Gemeinsamkeit und Verschiedenheit keinesfalls den antinomischen Kräften von Sinngebung und Zerstückelung, im Gegenteil. In einer Welt unterscheidbarer Dinge gibt es Gemeinsames nur im Partiellen. Die Ausbildung von Unterschieden ist genauso notwendige Bedingung jeder Erkenntnis, wie jede erkannte Gesetzmäßigkeit hinreichende Bedingung neuer Mannigfaltigkeiten ist. Der kastalischen Spielweise hingegen eignet es nicht, einer einmal entdeckten Gemeinsamkeit neue Vielfalt folgen zu lassen; auch wenn die formalistischen Spieler in diese Gefahr geraten. Josef Knecht erahnt, wohin solche Abstraktion der Abstraktion, die fortgesetzte Ausübung von Vereinheitlichung ohne Schaffung neuer Inhalte münden muss – in die Tetraktys, die Trinität, die Dualität, das All-Eine:

Denn die Innenseite, die Esoterik des Spiels, zielt wie alle Esoterik ins Ein und All hinab, in die Tiefen, wo nur noch der ewige Atem im ewigen Ein und Aus sich selbst genügend waltet. Wer den Sinn des Spiels in sich zu Ende erlebt hätte, wäre eigentlich schon kein Spieler mehr […]


    Als Student hat Josef Knecht die Möglichkeiten einer radikalen Lebensführung ausgelotet, alle vier Lebensläufe des Romans (auch der unveröffentlichte) enden mit dem Tode, die ersten drei mit dem physischen, der letzte und damit der Roman mit den Worten: Er hat den Wald nicht mehr verlassen. Hermann Hesse und Josef Knecht (und Kung Fu Tse) zweifeln nicht an der Einheit alles Seins, wissen aber, dass für den Vollendeten diese Welt nur noch Maya, ein Nichts in bunter Haut ist.
    Gilt es ein Vorbild für Josef Knechts Lebenslauf zu finden, so ist es das Leben des Kung Fu Tse: Er lebte in einer Zeit der Auflösung, der sich bekämpfenden Reiche. Die Rettung sah er im Studium des Altertums, in dem er den zeitlosen Gehalt suchte und in ein Neues wandelte. Er war Zeremonienmeister; bekleidete hohe Ämter, entsagte ihnen und starb unbeachtet und zurückgezogen im Kreise seiner Schüler. Gegenüber Frauen war Kung Fu Tse gleichgültig; drei Dingen maß er höchsten Wert bei: der Pädagogie, der Musik und dem Spiel des I-Ging. Sein vornehmes Ziel galt der Heranbildung einer aristokratischen Elite; im Lernen sieht Kung Fu Tse den einzigen Weg zur Vollkommenheit, der Sinn alles Lernens ist die Praxis. Er glaubte an eine höchste Ordnung; nie glaubte er, dass vollendetes Wissen in der Welt möglich sei. Menschenliebe und Gerechtigkeitssinn hielten ihn an, über das Tao in einem Maße zu schweigen, dass ihn die Legende zum Kontrahenten von Laozi machte.


V


Die Entstehung des Glasperlenspiels benötigte mit Unterbrechungen mehr als zehn Jahre, denn im Schweizer Exil opferte Hermann Hesse sein Kastalien bereitwillig den hilfesuchenden Flüchtlingen des Dritten Reiches. Zuletzt tilgte er viele Gegenwartsbezüge des Romans, um ihm eine zeitlose Gültigkeit zu verleihen. Wie andere Autoren beider Emigrationen ging er davon aus, dass das Zeitlose in der Vergangenheit bereits enthalten sein muss und dass es sich dort durch seine Beständigkeit offenbart. Es ist dieser überzeitliche Blickpunkt, der den Roman als Werk der frühen Nachkriegszeit ausweist. Das Glasperlenspiel steht stellvertretend für eine von zwei literarischen Richtungen nach dem Kriege, und zwar der, der die älteren Autoren angehörten, die ihre Werke bereits vor oder während des Krieges angefangen hatten und in einem reflektierenden Stil schrieben; zu der zweiten, der der jüngerer Autoren, welche außer der Gegenwart nichts besaßen, gehört Theodor Plieviers parataktischer Roman Stalingrad. Auch wenn Hermann Hesse empfiehlt, das Glasperlenspiel als Dichtung zu lesen, er schreibt eher ein Bekenntnis
. Die Ereignisse des Romans gleichen Fabeln, die Charaktere sind bezeichnend, ihre Psychologie metaphysisch, wovon die Abwesenheit der Frauen ein Indiz ist. Der Roman hob den Leser aus der bedrückenden Gegenwart mit ihren Schuldverstrickungen auf einen überhöhten Blickpunkt, von dem aus ein zeitloser Sinnzusammenhang eröffnet wurde. Das Spiel, wie ich es meine, schreibt Knecht an den Alt-Musikmeister, umschließt nach absolvierter Meditation den Spieler so, wie die Oberfläche einer Kugel ihren Mittelpunkt umschließt, und entläßt ihn mit dem Gefühl, eine restlos symmetrische und harmonische Welt aus der zufälligen und wirren gelöst und in sich aufgenommen zu haben.
    Seine bemerkenswerte Komplexität verdankt das Glasperlenspiel zum guten Teil der sorglosen Versammlung verschiedener Philosophien. Stets bleibt Hesse unscharf, behauptet, wo er erweisen müsste, beschreibt, wo er gestalten sollte und woran sich die literarische Qualität eines Werkes bemisst. Dualistische Kosmologien postulieren gern eine übergeordnete Ganzheit (die sich bei näherem Hinsehen als die geistige Hälfte herausstellt), das Glasperlenspiel erreicht dieses die Gegensätze Überschreitende, indem sich darin zu jeder Feststellung von Gewicht in irgendeiner Weise und an irgendeiner Stelle des Romans auch das Gegenteil finden lässt. Unschwer kann man Hermann Hesses letztem Roman Mängel nachweisen – vieles, was Robert Musil an seinem ersten, dem Camenzind, auszusetzten hatte
, gilt auch für das Glasperlenspiel, und doch erreicht die Kritik nicht Hesses poetische Intention, ein Bild seiner Gegenwart und darüber hinaus, wie Don Quijote, des menschlichen Bedürfnisses nach Sinn abzugeben.
    Immanuel Kant sieht in der Freiheit die Grenze zwischen der Welt und dem Übersinnlichen. In Hermann Hesses Roman überspannt die determinierte Potentialität des Nikolaus von Kues diese beiden Ufer. Jenseits der Kantischen Grenzziehung herrscht die coincidentia oppositorum im All-Einen, in der Welt der Zehntausend Dinge aber ist eine endgültige Wahrheit nicht festzumachen. Der hintersinnige Kung Fu Tse lächelt: Der Wissende freut sich am Wasser, der Fromme freut sich am Gebirge.


VI


Hesses Romane erfuhren in den 60er Jahren eine zweite, unerwartete Rezeptionswelle. Was die Literaturwissenschaft so erstaunte, war, dass die euphorischsten Reaktionen nicht von Hesses traditioneller Zielgruppe kamen, sondern von Teenagern aus den Vereinigten Staaten bis Japan, denen der Bildungsroman und die deutsche romantische Subjektivität unbekannt waren. Was Hesse von anderen Autoren der Vor- und Nachkriegszeit jedoch abhebt und so modern macht, ist der Selbsterfahrungsstil seiner Werke.
    Die Selbstsuche und Selbsterfahrung, schon immer vorhanden als Privileg von wenigen, ist als Massenerscheinung ein Phänomen der Moderne. Wo der Glaube verloren geht, beginnt die Suche. Hesses beispielhafte Exzesse mussten der Jack-Kerouac-Generation zusprechen. Zwar unterscheidet sich das gereifte Glasperlenspiel durch den gesellschaftlichen Focus von Hesses übrigen Romanen, es bleibt aber die Lebensgeschichte eines Außenseiters, eines Unangepassten, der nirgends halt macht. Saint Hesse among the Hippies (Theodore Ziolkowski) gelang es, die Zivilisationskritik des 19. Jh. in das Zeitalter des New Age, der östlichen Meditationswelle und der Ökologiebewegung zu retten. Der überschwängliche Prophet Timothy Leary erkannte im Glasperlenspiel sogar die hellsichtig scharfe Vorwegnahme des digitalen Zeitalters.


VII


Das vielfältige Universum mag ohne eine sinnstiftende Ordnung auskommen, der Mensch, weiß Hermann Hesse, kann es nicht. Er lässt sich auch nicht von der möglichen Fiktionalität seiner Metaphysik beirren – hat doch ein Eremit einst über Kung Fu Tse gesagt: "Ist das nicht der Mann, der weiß, dass es nicht geht, und dennoch fortmacht?" Aus den schmerzhaften Erfahrungen der Moderne weiß Hesse, dass er ewige Werte nicht in der äußeren Realität, sondern nur dort suchen kann, wo sie unzweifelhaft vorliegen: – Zu keinem Zeitpunkt untersucht das Glasperlenspiel das Universum oder den Geist – es sind immer nur die Produkte des Geistes. In ihnen offenbaren sich die Enttäuschungen und Hoffnungen des Menschen im Umgang mit der Welt. Ähnlich wie Minister D– in Edgar Allan Poes Erzählung Der entwendete Brief bringt Hesse den ehrlichen Hinweis gleich auf der ersten Seite seines Romans – an der Stelle, von der sich der Leser im Verlauf seiner Lektüre am weitesten entfernt:

[…] nichts entzieht sich der Darstellung durch Worte so sehr und nichts ist doch notwendiger, den Menschen vor Augen zu stellen, als gewissen Dinge, deren Existenz weder beweisbar noch wahrscheinlich ist, welche aber eben dadurch, daß fromme und gewissenhafte Menschen sie gewissermaßen als seiende Dinge behandeln, dem Sein und der Möglichkeit des Geborenwerdens um einen Schritt näher geführt werden.


    Unvermerkt machen die Kastalier uns glauben, dass die Gesetze, die das Glasperlenspiel aus den Kulturprodukten aller Epochen destilliert, die Gesetze des Geistes seien und dass sie mit den Gesetzen des Universums identisch sind.

Timothy Learys Entsprechung von Glasperlenspiel und Technologie des Informationszeitalters kränkelt an der Ambition des letzteren, die Welt aus einer Zentralperspektive zu erklären, gewinnt aber durch eine interessante Verwandtschaft: der zwischen Glasperlenspielern und Computeranwendern. Dem universalen Spiel und der universellen Maschine ist die Fähigkeit gemein, eine Welt aus Symbolen zu erschaffen. Bereits 1976 beschreibt Joseph Weizenbaum
das Phänomen des "zwanghaften Programmierers" überall in den Rechenzentren der Industrieländer, der gebannt vom Schaltpult mit geröteten Augen tagelang nur mit dem Rechner zu existieren scheint; heute ist der Computerspieler als Konsument zu einem Massenphänomen geworden. Damit hat die digitale Maschinerie in einer pervertierten Form erschaffen, wonach Platoniker und Mystiker sich Jahrhunderte gesehnt haben und was die alten „Spiele“ wie Astrologie oder I-Ging nur ungenügend vermochten: eine geistig erfahrbare Welt aus Symbolen und Regeln, in der nichts ohne Sinn ist. So wie der Glasperlenspieler, erlebt auch der zwanghafte Programmierer oder Computerspieler einen beglückenden Zustand der Versenkung – Syntax und Regeln seines magischen Kosmos sind alles, was er zur Lösung seiner Probleme benötigt, die äußere Welt wird zur Zwischenwelt.

Allerdings hat sich die Grenze zwischen Wirklichkeit und Simulation längst verflüchtigt. Ein unverbindliches Feuilleton hat sich des kastalischen Spiels mit Symbolen des Sinns bemächtigt, ob Kriegsberichterstattung, Fernsehshows oder die Warenwelt, Simulacrum und Wirklichkeit sind ununterscheidbar geworden, Fiktion verändert die Realität – "Eine Lüge, die sich wahrlügt" (Günther Anders). Jean Baudrillard erkennt in der Postmoderne das Ende von Karl Marx’ Unterscheidung des Gebrauchs- und Tauschwerts: die (post)feuilletonistische Welt ist in das Stadium des nur noch symbolischen Wertes eingetreten. Nietzsches Voraussage von der Entwertung der Werte sei damit erfüllt, sagt er, mit der ethischen Basis löse sich auch die Idee des Wahren und Guten auf. Den freigewordenen Platz des Bösen nimmt darin die Systemstörung ein. In der Tücke des Objekts, seiner Indifferenz gegenüber der symbolischen Manipulation, sieht Baudrillard die letzte Hoffnung. Den Zusammenbruch des Verdrängungsmechanismus kann ein Alltagsobjekt auslösen oder die ökologische Katastrophe – vor allem aber der Tod.
    Wie Bertram, der "Schatten" des verstorbenen Magisters Ludi Thomas von der Trave, findet Josef Knecht sein Ende in den Bergen. Eine ironische Anspielung von Hesse: er und Thomas Mann – ob die Formalen oder die Psychologischen – sie enden in der Natur gleichermaßen. Josef Knechts Tod wurde schon beim Erscheinen des Romans enttäuscht als abrupt und unmotiviert empfunden. Ohne den systemüberschreitenden Transzendenz-gedanken ist er es auch. Für Josef Knecht aber war das Opfer die höchste Form des Dienstes.
    Für eine fieberhafte Welt ohne Metaphysik und Transzendenz bleibt der Tod undeutbar und systembedrohend. In archaischen Kulturen dagegen gehört er zu dem umfassenden Tausch von Leben und Tod
, wie er auch im Inzestverbot oder bei der Initiation praktiziert wird. Als Student hat Josef Knecht ihn bereits im Lebenslauf des Regenmachers vorweggenommen, nun vollzieht der Meister des symbolischen Spiels den uralten Tausch im unbedingten Ernst: sein Leben gegen das Leben des Knaben Tito. Ein letztes Mal transzendiert der ehemalige Magister Ludi, diesmal seine individuelle Existenz.


Juli 2015



¹ Von allen Folgen, die diese tausendjährige Geschichte für die moderne Zeit hatte, hat sich keine als so destruktiv erwiesen wie diese Kluft: das Außen als Dimension der Vielfalt und des Chaos hat alles moralische Vorstellungsvermögen verloren – ganz anders als das gegliederte Innen. Richard Sennett: Civitas. Fischer 1991.
²
Zitiert nach: Dieter Lattmann, Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart. Kindler 1980.
³
Seine anderen Facetten finden sich z.B. bei Nietzsche oder als Liebesverbot in Thomas Manns Dr. Faustus.
Was mich selber betrifft, so habe ich schon seit Jahren den ästhetischen Ehrgeiz aufgegeben und schreibe keine Dichtung, sondern eben Bekenntnis, so wie ein Ertrinkender oder Vergifteter sich nicht mit seiner Frisur beschäftigt oder mit der Modulation seiner Stimme, sondern eben hinausschreit. Brief an Heinrich Wiegand, 14.11.1926.
Merkt niemand, daß sagen: "Die Natur ist schön" noch keine Dichtung von der Natur ist? […] Fühlt niemand die eigentümliche Anerotik dieses Buches? Das Sentimentale seiner Freundschaften? […] In Summa das Homosexuelle dieses Buches!? […] Dann merkt niemand das schlechte u. gemeine Deutsch des Buches? Diesen Kommisstil? Fühlt niemand den holprigen Gang, das Diletantische, Geheftete dieses Buches? Robert Musil: Über echt Deutsche Dichter. Entwurf aus dem Nachlass. Vermutlich 1910. In: Volk und Welt, Berlin, 1984.
Joseph Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Suhrkamp 1978.

Marcel Maus: Die Gabe. Suhrkamp 1990.

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