Ivor Joseph Dvorecky: Der metaphysische Ziegelstein
Memo/Essay > Aus dem Notizbuch
Ivor Joseph Dvorecky
Der metaphysische Ziegelstein
26. August, wieder Zeit für den Nichtraucher José, sich eine Gauloise Blonde anzustecken und vielleicht einmal den Welttag der Zigarette auszurufen, oder des Kalumets, pour le littérateurs engagés, durchinhaliert versteht sich, Ehrensache, was er nur auf dem Balkon und sitzend vermag, zu Ehren des großen Autors, der kaum einen Absatz schrieb, ohne dass darin eine Zigarette angezündet wurde, das Rauchen, diese lobenswerte Gewohnheit, und der daran wohl zugrunde ging, und außerdem der Tag, da José ein Typoskript aus der Schublade holt, das dort für gewöhnlich unter einem polierten Glasziegel liegt, die einzige Möglichkeit, es vor Verflüchtigung zu blauem Dunst zu bewahren, dieses restpektvolle Pastiche, eine Annäherung nach altem Brauch der Maler und Schreiber, keinesfalls eine postmoderne Übung allerdings, und außerdem eine Möglichkeit, den Einfluss eines Autors loszuwerden, sagt Marcel Proust, der es wissen muss, da er den Pastiches ja ein ganzes Buch gewidmet hat, jedenfalls eine Huldigung, zumal José sich sicher ist, sie würde unserem Autor ein Lächeln entlocken, dem nichts wichtiger war als das Spiel, so dass dieser es zu schätzen wüsste, dass José dem doppelten Boden seiner Geschichte einen weiteren aufsetzte, denn in dieser seiner Erzählung betätigt unser berühmter Autor selbst sich zum guten Teil als Pasticheur, und zwar der Geschichten eines erfolglosen Stummfilmkinopianisten, der an den Folgen seiner Fettleibigkeit zu sterben glaubte, während es doch Leukämie war, eine weitere Gemeinsamkeit mit unserem Autor, insbesondere aber einer Erzählung des Pianisten, worin der Balkon die Hauptrolle spielt, was José, bereits vom Tabak schwindlig, wohlwollend vermerkt, zugleich aber auch wie er dort, wo sein Einfallsreichtum ihn verließ, Textstellen des großen Autors wörtlich übernehmen musste, etwa hier, wo dieser schreibt: Bei Frauen, da weiß man nie, und José lediglich »Frau« gegen »Meer« getauscht hat, ein interessanter Vergleich, der unserem Autor auch gefallen hätte, der ein ausgefuchster Poeta doctus war, und außerdem war es bei diesem Pastiche die Aufgabe, die Zeitstruktur des Originals zu übernehmen, seine Horen, eine Transposition nach dem Vorbild der Komponisten, fünf Tage – fünf Nächte, ein Pentamerone sozusagen, und José lässt es sich nicht nehmen, die beiden Bücher aufzuschlagen, und zwar zuerst die wunderbare Textstelle des Stummfilmkinopianisten zu lesen, der da schreibt: (...) eingezogen war das Schweigen; ich sah es größer werden auf dem schwarzen Deckel des Klaviers. Das Schweigen hörte gern Musik (...) griff in die Musik ein; es ging zwischen den Tönen herum wie ein Kater mit seinem großen schwarzen Schweif, und dann waren sie voll von Absichten. , um dann sogleich nachzusehen, was unser berühmter Autor daraus macht: schien die Stille (...) zu gerinnen, wie Asche auf die Möbel und Fliesen zu fallen. Der Fahrstuhl wirkte nun fast lärmend und ebenso das Geräusch von Zeitungsblättern oder das Reiben eines Streichholzes, was zugegebenermaßen ein bisschen enttäuscht, zugleich aber sieht sich José getröstet, weil dispensiert durch die Übermacht eines Originals, wie man sieht, und er beschließt beide Geschichten wieder zu lesen, während dieser vergänglichen Hora, der Stunde, da Earl Hines aus der Tiefe der Zeit I ain’t got nobody spielt und die Zigarette unwiederbringlich zu Ende brennt.
( Sommer 2018 )
*
H o r a c i o
Unterwegs
zum Hafen betrachtete Ribera sich die Stadt durch das Fenster des Omnibusses
gleichsam, als würde er nicht mehr dazugehören. Die Straßen von Buenos Aires
lagen im späten Licht des Nachmittags, das Schiff würde bald ablegen, aber es
blieb noch genügend Zeit. Nur wenig vom Reisefieber behelligt, überließ er
einer dicken Frau mit zwei kreischenden Blagen beim Aussteigen den Vortritt.
Das Schiff wartete am Kai, der Schornstein dampfte abfahrtbereit. Am Ende der
Landungsbrücke wurden sie von einem Steward in weißer Uniform begrüßt, danach
stellte Ribera sich mit den übrigen Passagieren in die Warteschlange vor der
Rezeption, wo man ihm seinen Schlüssel und einen gefalteten Schiffsplan
aushändigte. Er hatte sich eine Außenkabine mit Bad geleistet, die ihm während
der Überfahrt die nötige Ruhe zu Lesen und zum Arbeiten geben würde.
Eine steile Treppe führte ihn auf das
Deck C, was auf der Horacio einem ersten Stock entsprach. Die mit einem
verblichenen, dunkelroten Teppich belegten Gänge waren ungewohnt eng, doch
schon nach wenigen Schritten konnte er die Koffer vor der Nummer 104 abstellen.
Seine Kabine besaß ein Doppelbett, einen Tisch und ein Fenster, das groß genug
war, auch ohne elektrisches Licht ausreichend Helligkeit hereinzulassen. Als
erstes machte er die Tür zum Badezimmer auf, es war klein, aber sauber und
gemütlich, wie das ganze Zimmer, dann öffnete er das Fenster ein wenig und zog den
Vorhang zu. Erleichtert, sich der Hektik entzogen zu haben, streifte er die
Schuhe ab und streckte sich über beide Betthälften aus. Rauchend überließ er
sich den Gedanken; selbst als das Tageslicht schwand und ein Rütteln durch das
Schiff ging, gab er der sentimentalen Versuchung nicht nach, sich zu den
Stimmen unten an Deck zu gesellen und bis zuletzt etwas von dem schwindenden
Landhorizont ausmachen zu wollen.
Der große Saal zum Abendessen war
rappelvoll und laut. Die Passagiere waren von guter Laune angesteckt, wie es
der Anfang einer Reise zumeist verspricht. Ribera wurde der Platz neben einem
alten Ehepaar zugewiesen, das die Schiffsreise regelmäßig zwei Mal im Jahr
antrat und
das der Chefsteward bereits gut kannte. Dieser war ein sehniger, ziemlich
rothaariger Engländer, der gutes Spanisch sprach und dem man ansah, dass er
sein Leben auf Schiffen zugebracht hatte. Mit viel Geduld beantwortete er die
Fragen der Passagiere, als er an Riberas Tisch
angelangt war, erklärte er, dass ihr Gangabschnitt ruhig sei, weil dort außer
der ihren keine Kabinen belegt seien und weil über dem Deck C nur noch das
Promenadendeck sei. Am nächsten Morgen, während sie auf die Bedienung warteten
und vom Reisewetter sprachen, bemerkte Ribera, dass die alte Frau einmal schön
gewesen sein musste und dass sie zuweilen die Hand ihres Mannes drückte.
Nach dem Frühstück hatte Ribera mit dem
Plan in der Hand das Schiff besichtigt, und es hatte länger als gedacht
gedauert, die Horacio mit ihren engen Gängen und steilen Treppen, von der Tür
zum Maschinenraum bis zum Ausblick vom Promenadendeck kennenzulernen.
Anschließend verteilte er den Inhalt der Koffer auf die Bettdecke, rückte den
Tisch dicht ans Fenster und brachte die Manuskripte und die beiden Wörterbücher
in die gewohnte Ordnung. Die Fahrt nach Rio würde fünf Tage beanspruchen, er
hatte vor, die Zeit bis zum Kongress mit nützlicher
Arbeit zu verbringen. Abgesehen von einem Verdauungsspaziergang auf dem
Hauptdeck saß er bis zum Abend über dem Text in einem alten dorischen Dialekt,
zufrieden, sich problemlos an die neue Umgebung gewöhnt zu haben.
Das Abendessen wurde pünktlich ab achtzehn
Uhr serviert, danach gab es ein kleines Willkommensprogramm, für das gestern
während der Abfahrt keine Zeit gewesen war. Amüsiert ertappte Ribera sich
dabei, wie er die Begrüßung in den drei Sprachen verglich, die feinen Unterschiede
im Umgangston, die bekannte Unmöglichkeit einer vollkommenen Übersetzung. Als
er in seine Kabine hochkam, war es nach zehn, und er fühlte sich todmüde. Beim
Ausziehen atmete er tief die Seeluft und stand auch noch eine Weile vor dem
Fenster. Danach streckte er sich breit aus und schlief sofort ein. Er wachte
erst gegen neun Uhr auf, und in den ersten Augenblicken, da er sich des vibrierenden
Schiffskörpers bewusst wurde, glaubte er, dass ihn zu irgendeinem Zeitpunkt der
Nacht ein unheilvolles Gefühl bedrückt hatte.
Nach dem Frühstück unterhielt er sich mit dem
Chefsteward. Da es an der Rezeption nichts zu tun gab, begleitete jener ihn vor
die Tür. Sie rauchten und plauderten ein wenig, Ribera erfuhr, dass er Stevens
hieß und in Santos Frau und ein Töchterchen hatte. Er seinerseits erzählte,
weil er das allgemeine Unverständnis schon gewohnt war, was ein Altphilologe
macht. Zur beiderseitigen Freude wechselten sie spielerisch zwischen Spanisch
und Englisch. Der Engländer sprach mit Stolz von seinem Schiff und versicherte
ihm, dass sie immer pünktlich seien,
selbst während der Sommerstürme; dann kam eine junge Frau, und er musste zurück
an seine Theke.
In der Abgeschiedenheit der Kabine fand
Ribera leicht wieder Anschluss an seine Arbeit. Zigaretten und die gewohnte
Routine ließen ihn alles andere vergessen. Die Rohübersetzung war beinahe
fertig, als ein aufdringliches Klopfen ihn aufstörte; in der Tür standen ein schieläugiger
Filipino und eine Zwergin mit rollendem Staubsauger. Sie grinsten
unmissverständlich, und der Mann begann mit flinken Bewegungen das Bett zu
machen. Ribera sah verstimmt auf die Uhr, was soll‘s, ohnehin war es fast
Mittag.
Der Rest des Tages verstrich in angestrengten
Bemühungen, die verbliebenen Missver-ständnisse auszuräumen und zugleich
Philolaos’ Weltsicht zu erhalten. Er durfte nicht den Fehler seiner Vorgänger begehen,
dem Wissen der Gegenwart unbewusst Einschlupf zu gestatten.
Nach einigen Stunden sah Ribera sich außerstande zu entscheiden, welche Version
die bessere war; das Meer glühte feuerrot in den Strahlen der versinkenden
Sonne, er schraubte den Füller zu und verließ die Kabine.
Die Suppe war köstlich, man brachte sie
in großen, zugedeckten Blechschüsseln auf die Tische, wo sie stehen blieb, bis
das Hauptgericht gereicht wurde. Zur Verwunderung seiner Tischnachbarn rührte
er das Dessert nicht an, weil er Biskuit nicht mochte, stattdessen begab er
sich an die Schiffsbar, um sich bei einem Glas die Nachrichten im Fernsehen
anzusehen. Etwas einfältig hatte er gestern am Buffet eine La Razon
verlangt, der Mann hatte ihm die Zigaretten auf das Pult gelegt und lächelnd
erklärt, auf dem Schiff gäbe es keine frischen Tageszeitungen.
Bevor er sich schlafen legte, beschloss
Ribera, einen Spaziergang zu machen, insbesondere an nichts zu denken. Die Luft
auf dem Hauptdeck war angenehm lau. Die Passagiere promenierten in Paaren oder
standen an der Reling, aber alle sprachen leise, wie um die Ruhe dieser Nacht nicht
zu stören. Ribera schlenderte entlang der Reling, die mit Persenning bedeckten
Beiboote und die groben Seilwinden betrachtend, eine Schiffsausrüstung,
gemacht, um den Elementen zu trotzen, und allmählich fühlte er, wie die
Gedanken des Pythagoreers von ihm abließen. Wenn alles gut ging, würde er
morgen fertig sein, vielleicht für die Kollegen eine kleine Überraschung
bereithalten. Im Dunkeln war er bis an die Stelle mit dem Verbotsschild
gekommen, die er bereits kannte, doch war die Kette diesmal nicht verhängt.
Unwillig, sich davon aufhalten zu lassen, blieb er nicht stehen. Nach einigen
Schritten trat er in den matten Lichtkreis einer Lampe, die über einer
geheimnisvollen Blechtür befestigt war und das Achterdeck beleuchtete. Tiefer
im Dunkeln, wo es lauter war und das Wasser zu schäumen schien, ragte so etwas
wie Kräne. Er wollte schon umkehren, denn er hatte das ungute Gefühl einen unerlaubten
Bereich betreten zu haben, als er oberhalb der Tür die Farbreste eines weißen
und roten Kreuzes entdeckte.
Ribera war überrascht, hier so etwas
vorzufinden, auch die Gestelle, die unzweifelhaft von Lastkränen stammten. Er
hatte geglaubt, die Horacio wäre als Linienschiff gebaut worden, kein Luxusschiff,
aber ein Passagierschiff, jetzt sah er, dass sie ein umgebautes altes
Lazarettschiff war, das seinerseits einmal ein Frachter gewesen war. Und nun
erinnerte er sich auch, dass ihn von Anfang an etwas an Bord gestört hatte,
ohne dass er hätte sagen können, was es war. Die engen Gänge, die ungünstig
geschnittenen Räume, die Wände im Speisesaal, die mit Plakaten und Girlanden
plump etwas zu verbergen trachteten.
Der Spaziergang hatte ihn müde gemacht,
gleich nach dem Duschen legte er sich ins Bett. Drei oder vier Stunden später
wachte er aus einem bedrückenden Traum auf. Er war verzweifelt auf einem Floß getrieben,
auf dem rückströmenden Okeanos, und hatte auf der schwarzen Himmelskuppel
vergeblich nach dem Orion und den rettenden Plejaden Ausschau gehalten. Im Bett
richtete er sich auf und wartete, dass sich der Albdruck verflüchtigte, da
bemerkte er das Fehlen der Schiffsgeräusche.
Ohne die Nachttischlampe anzuknipsen, stand
er auf und verharrte vor dem Fenster. Er hatte sich nicht getäuscht, nicht nur
die Motoren, auch das Rauschen des Fahrtwassers hatte aufgehört. Das Schiff schlingerte
leicht, die Horacio driftete auf dem Atlantik. Das erklärte seinen Albtraum,
und er konnte sich wieder hinlegen, aber dann überlegte er, dass nicht sein
konnte, dass die Schiffsmotoren abgestellt waren, der Chefsteward hatte ihm
doch versichert, sie durften keine Zeit verlieren, um pünktlich in Rio
anzukommen. Ribera ging durch den Kopf, dass es vielleicht ein vorübergehendes
Problem gab und man die Passagiere nicht beunruhigen wollte. Aber ihm fiel die vorige
Nacht ein, es war nicht das erste Mal, und nun war er sich sicher, dass es diese Stille gewesen war, die ihn in der ersten Nacht
gestört hatte, denn es war keine gewöhnliche Stille, vielmehr ein erdrückendes
Gefühl hoffnungsloser Verlassenheit, ein Ausgeliefertsein einem unermesslichen
Element gegenüber, als würde die Mannschaft
das Schiff aufgegeben und die Passagiere sich selbst überlassen haben.
›Das und die verrückten Ideen des alten
Griechen – ich arbeite zuviel‹, dachte Ribera. ›Gleich nach dem Kongress fahren
wir nach Los Horneros, wie ich es Lucia versprochen habe.‹
*
Beim
Frühstück mit dem alten Ehepaar dachte Ribera darüber nach, während die Frau
etwas von ihrer Tochter erzählte. Wie die Kinder aller Eltern sei Joaquina von
klein auf künstlerisch begabt gewesen, jetzt studiere sie an der Universidade
Santa Úrsula. Er hatte in der Nacht lange nicht einschlafen können, bis ein
leichtes Rütteln durch das Schiff ging, die Horacio kaum merklich wieder Fahrt
und Richtung nahm. Später war er noch einige Male aufgewacht, hörte auf die
Schiffsmotoren, drehte sich um im Bett und schlief wieder ein. Er trank den
Kaffee aus und verabschiedete sich von seinen Tischnachbarn.
›Das mag alles seine Richtigkeit haben, aber
sie sind verpflichtet den Passagieren eine Erklärung zu geben‹, dachte Ribera
auf dem Weg zur Rezeption, und er verbarg nicht seine schlechte Laune, als er
die Glocke läutete. Der Chefsteward kam, Ribera einen guten Morgen
wünschend,
aus der kleinen Tür hinter der Theke.
»Abgeschaltete Motoren? Das muss ein Irrtum
sein. Es würde Stunden dauern, das Schiff wieder fahrtüchtig zu machen. Wir
müssen doch den Fahrplan einhalten, ich glaube, wir haben gestern darüber
gesprochen.«
Ribera schwieg. Entweder verheimlichte man
den Passagieren etwas, oder die Phantasie hatte ihm einen Streich gespielt. Er
hatte mit Schiffsreisen so gut wie keine Erfahrung und außerdem kam es ihm
jetzt bei Tage selbst unglaubhaft vor. Er zuckte die Achseln.
»Ich werde wohl geträumt haben«, sagte er
verdrossen und bestellte eine Kanne Mate auf seine Kabine.
*
Der
abschließende Teil seiner Arbeit war der angenehmste. Mit heimlicher Freude
unterstrich er Stellen in Platons Texten; manchmal sah er minutenlang durch das
Fenster aufs Meer, wobei sich dem Blick nichts Ablenkendes bot. Er verließ die Kabine
früher als sonst, ein letztes Mal wollte er sich den Sonnenuntergang von Deck
aus ansehen, seine Arbeit war praktisch erledigt.
Nach dem Abendessen trank er in der Bar am
Tresen einen Fernet Cinzano. Schon müde, beobachtete er im Spiegel hinter dem
Barmann die Gäste. Ein junger Schwarzer klopfte dabei den Filter der
Kaffeemaschine laut aus, die Zähne zeigend. Ribera bestellte noch einen
Espresso, wohl wissend, dass das zu dieser Zeit keine gute Idee war.
Ehe er sich hinlegte, dachte er, ob es nicht
besser wäre, das Fenster zu schließen, um im Schlaf nicht von den Geräuschen
draußen gestört zu werden. Wie immer um diese Zeit vibrierte das Schiff, es schwankte
ein wenig, während es Kurs hielt. Ribera aber kam es so vor, als würde es nur
darauf lauern, dass er einschlief, dass er und die ahnungslosen Passagiere
schliefen. Er lag todmüde im Bett, die köstliche Nachtluft atmend, ohne dass
sein angespannter Geist zwischen den Traumstücken Frieden fand.
Als er wach wurde, und noch bevor er sich
dessen deutlich bewusst werden konnte, wusste er beinahe mit Erleichterung,
dass die Motoren ausgesetzt hatten. Er stand langsam auf und horchte. Die
Horacio war vollkommen still. Hinter dem Fenster sah er den Schein der Nachtbeleuchtung
vom Deck unten, jenseits davon breitete sich die unergründliche Schwärze des
Ozeans. Er fragte sich, ob es nicht das Beste wäre, zum Chefsteward hinunter zu
gehen und ihn mit den Tatsachen zu konfrontieren. Wenn nötig war er bereit, den
Engländer zu wecken. Ribera warf sich den Bademantel über und verließ die
Kabine.
Die Rezeption war unbesetzt, die Sessel in
dem schwach beleuchteten Vorraum, in dem die Gänge zusammentrafen, waren leer.
Ratlos griff Ribera nach den Zigaretten in der Manteltasche. Die gewohnte
Handlung gab ihm ein wenig von seiner Ruhe zurück. Er rauchte, überlegte, ob er
klingeln sollte, und wartete auf jemanden oder etwas. Die Stille war
vollkommen, aber es war eine andere Stille als in seiner Kabine. Dort war sie
gedämpft, wattig, hier hingegen war sie gläsern und lauernd, eine sich des
ganzen Schiffes bemächtigende Stille. Ribera dachte an die Mannschaft, die
Offiziere, die an der Brücke sein mussten, doch wie man zur Brücke gelangte,
hatte er keine Ahnung. Ihm fielen die Erzählungen von Geisterschiffen ein, doch
nach Lachen war ihm nicht zumute; eher versuchte die Besatzung sie hinters
Licht zu führen, einen Vorteil herauszuschinden. Sicherlich hatten sie ihre Anweisungen
von der Reederei bekommen, womöglich sollte nicht herauskommen, dass man die
Strecke auch schneller und billiger bewältigen konnte. Oder die Maschinen waren
veraltet, dieser armselige alte übertünchte Pott, dass sie regelmäßig eine
Pause einlegen mussten, im Glauben, die schlafenden Passagiere werden es schon
nicht merken. Vermutlich saß die Mannschaft jetzt bei einem Kartenspiel, irgendwo
unter Deck, alles eine Komödie, ein abgekartetes Spiel.
Ribera fühlte die Kälte an seinen Knöcheln
aufsteigen. Er drückte die Zigarette aus, seine ohnehin schlechte Laune wurde
noch übler. Die falsche Stille, der unechte rothaarige Engländer, das
mechanische Lächeln der Besatzungsmitglieder – schlimmer noch, Philolaos und
Platon und die ganzen alten Griechen – er schlug auf die Tischglocke, und als niemand
auftauchte, schlug er sie nochmal. Er ging um die Theke und öffnete, ohne
anzuklopfen, die Tür. In dem kleinen Büro brannte ein schwaches Licht, aber es
war leer. In Mantel und Pyjama ging Ribera durch die verlassenen Gänge. Die
Boutique war geschlossen, hinter den Fenstern der Bar dunkel und leer. Er
fragte sich, ob er nicht an die Kabinentüren klopfen und die Passagiere wecken
sollte, aber eine uneingestandene Beklemmung hielt ihn davon ab und er kehrte
zurück zur Rezeption. Vor der Tür zum Hauptdeck zögerte er, dann machte er sie mit
einem Ruck auf und trat hinaus.
Die Stille und die Schwärze draußen waren vollkommen.
Als würde hinter der Reling die Welt aufhören. Die Horacio bewegte sich nicht, jedes
Geräusch, selbst jede Luftbewegung fehlten. In diesem Augenblick befiel ihn die
absurde Gewissheit, dass das Schiff nicht weiterfahren würde, solange er,
Ribera, wach blieb. Zitternd vor Kälte stahl er sich zurück, die Treppe hinauf
und in seine Kabine. Er verschloss das Fenster, den Vorhang und kroch unter die Decke
im Bett.
*
Als
Ribera zur Rezeption hinunterkam, war es nach zehn. Im Halbschlaf, in den
frühen Morgenstunden, hatte er Stimmen und Schritte auf den Gangtreppen gehört.
Vor der Rezeption standen oder saßen einige Passagiere mit Koffern. Der
Chefsteward kam hinter der Theke hervor, als hätte er bereits auf ihn gewartet.
»Wir werden wohl doch nicht pünktlich
ankommen«, sagte er mit einem schuldbewussten Gesicht. Ribera nickte
gleichgültig, einen Blick auf die Koffer werfend.
»Jedenfalls wird die Verspätung nicht groß
sein«, fuhr der Engländer fort, erleichtert, dass Ribera nichts sagte. »Statt
in der Nacht werden wir morgens in Rio einlaufen.«
Es hätte Nachmittag oder Abend heißen müssen und nicht Nacht,
und Ribera hätte diese Nacht lieber im Hotel zugebracht, als noch einmal auf
der Horacio. Aber wozu sich beklagen, wenn man ohnehin nichts ändern konnte.
»Vielleicht eine Kursabweichung wegen der
Winde«, sagte der Chefsteward noch, »oder wegen der Strömungen. Auf dem Meer,
da weiß man nie.«
»Nein«, sagte Ribera. »Da ist man nie vor
Überraschungen sicher.«
In seiner Kabine räumte er den Schreibtisch
ab und packte alles in die Koffer, die Arbeit war getan und der Kongress begann
erst am übernächsten Tag. Den Nachmittag verbrachte Ribera im Liegestuhl auf dem
Promenadendeck, das ziemlich voll war. Er hatte sich aus der Schiffsbibliothek
ein Buch von Cortázar geliehen, den seine Frau mochte, las eine Erzählung
daraus und meinte, sie erinnere ihn an einen Uruguayer, dessen Name ihm nicht
einfallen wollte. Doch beim Abendessen kehrte die Unruhe zurück. Ungeduldig
hörte er sich die Geschichten der beiden Alten an, für die Verspätungen auf
Schiffen nichts Ungewöhnliches zu sein schienen. Immer weniger konnte er sich vorstellen,
noch eine weitere Nacht auf der Horacio zu verbringen. Er trank in der Bar viel
Kognak, er wollte nicht weiter nachdenken, es besser
unentschieden lassen, wie jedes Mysterium, das die gewohnte Ordnung bedroht.
In der Kabine befiel ihn dann eine Übelkeit.
Er meinte, hier nicht mehr sein zu dürfen, längst hätte er im Hotel auf seinem
Zimmer sein müssen. Der Schrank war ausgeräumt, die Koffer standen vor dem Badezimmer.
Er hatte das Fenster geschlossen, den Vorhang zugezogen und sich bekleidet aufs
Bett gelegt, ohne viel Hoffnung auf Schlaf, nur seine Atemzüge zählend, die
unendliche Reihe der Pythagoreer. Die Stille in der Kabine war bedrückend, und
als dann später, viel später in der Nacht, die Schiffsmotoren aussetzten, zog
Ribera sich die Bettdecke über den Kopf und versuchte, nichts zu hören, an
nichts zu denken, außer an Zahlen, während die Horacio entlang der Grenze des
Unermesslichen fuhr, falls er und die übrigen Passagiere jemals in einem Hafen
ankommen sollten.
(Herbst 2015)