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Iulian Tănase: Abgrunde

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Kristian Kühn

Briefe an den Schlaf

 
Biggie Biggie Biggie
can’t u see ?
Sometimes your words
just hypnotize me
(The Notorious B.I.G.: Hypnotize)
        
Abgrunde scheint eine Frau zu sein, vielleicht eine Göttin, begehrenswert, wenn auch mit sprechendem Namen – ich wähle zur Einführung den Text „Die Musik ist genießbar“: Jonas Palev sitzt mit Abgrunde an einem Tisch.

Es herrscht eine geräumige Finsternis. Ein Geruch nach giftigen Kerzen“ –
 
dazu spielt ein riesenhafter Pilz in einem Brautkleid Polka. (Warum drängt sich mir als Bild dazu ein Atompilz auf?)

Willkommen bei Iulian Tănase aus Rumänien, übersetzt von Ernest Wichner, und bei der brueterich press (Sie wissen ja: „Schwierige Lyrik zu einem sehr hohen Preis“).

Du bist der einzige Mann, für den ich mein Leben opfern würde“, sagt der weibliche Abgrund. (Sie wissen ja: Jona, der biblische Mann mit dem Auftrag, die Leute aus Ninivé zu warnen und ihnen das Gottesgericht anzudrohen, will Gott zunächst täuschen, indem er in die entgegen-gesetzte Richtung flieht, worauf ein Sturmbraus sein Boot kentern lässt und er im Bauch des Walfischs landet – am dritten Tag wird er ausgespuckt:)

Und Jonas antwortet gleich: „Borbro“. Das Wort scheint eine magische Bedeutung zu haben, denn:

Der festlich gekleidete Pilz ändert sein Repertoire im Gehen. Die Finsternis zieht sich zusammen und versteckt sich im Aschenbecher, der auf dem Tisch Walzer tanzt.“

Die Szene beruhigt sich. „Eines Nachts werde ich anfangen, von dir zu träumen und niemals damit aufhören, sagt Abgrunde.“

Soweit der Text. Nein, Jonas antwortet noch: Burcep. (Im Text zuvor hatte er an den Schlaf einen Brief über das Träumen bei den Huronen geschrieben, über den Traum als Sprache unerfüllter Wünsche: „Wer das Diktat der Träume nicht beachtet, macht sich eines schweren Verbrechens schuldig.“)

Träume sind Befehle!

Borbro, was auch immer diese zwei Silben bedeuten (vielleicht „schnell, schnell“ – im Web steht eine ungarische Seite dieses Namens für Motorradsport. Das Aufbrausen der Maschine?) Ich wundere mich auch über Palev statt Pavel, aber es ist ja der Nachname, der im Rumänischen zuerst genannt wird: Palev Jonas, oder über Borbro und Burcep, Wörter, die mich in die Irre führen, sobald ich nach ihnen google. Mal haben sie was mit Motorrädern zu tun – zum Beispiel lese ich dort: Hat schon jemand die Borbro-Sitzbank ausprobiert? – Egal, Lautmagie halt, wodurch Jonas aus seinem Traum ausgespuckt wird und einen neuen Brief an den Schlaf schreiben muss, will er von Abgrunde weiter träumen.

Oder Burcep – dann sagt Jonas „Burcep“ – ich finde einen türkischen Vornamen auf facebook. Es ist die Suche nach unbekannten Silben wie nach Mantren, als hätten diese eine Bedeutung. Sie sind wohl ein Schutz vor dem Feuerkern der im Traum angewehten Bedeutungen, für die Dichter vielleicht, wie auch für die Lesenden vielleicht. Denn sie alle befinden sich auf ihrer Suche auf einer Möbiusschleife – Abgrunde endet ihren Brief „Tief und rot“ mit dem Gruß „Entgegenkommend mit der Möbiusschleife“ – also immer von neuem oder eben gar nicht. Und dann folgen „Zwei Zitate voller Blut“, das eine über die biblische Symbolik der Alchemisten – das andere aus dem „Hermetischen Triumphwagen“ – wobei ich mir nicht sicher bin, ob das überhaupt stimmt, soll ich wirklich den Triumphwagen des Antimon von Basilius Valentinus hervorholen und überprüfen, wie Tănase mit dem Originaltext spielt? Oder wie die Stelle aus dem Rumänischen ins Deutsche übersetzt wurde:

„Das Männchen und das Weibchen, der Körper und der lebendige Geist sind nichts anderes als Körper und Blut. DIE AUFLÖSUNG DES KÖRPERS IM EIGENEN BLUT und die Auflösung des Männchens durch das Weibchen stellt die Auflösung des Leibes im eigenen Lebensgeist dar.“

Also, rät der Traum, der dem Träumer ja Befehl sein soll, den eigenen Blutabfluss zu steigern, sprich zu sterben – denn nichts ist umsonst. Auch die Vereinigung nicht, die chymische Veredelung des Männchens durch seine Auflösung im Weiblichen.

Du kannst nicht träumen, wenn du nicht stirbst“ heißt einer der Briefe, die Jonas im Schlaf schickt. Worte, Sätze – mantrengleich feurig und doch wie Glatteis für den Verstand. Dabei den Kern aus alchemistischen Originalen und der Bibel schöpfend, aber ironisiert, depraviert – das heißt, in einem veränderten Bewusstseinskontext. Doch auch wenn man sich nicht mit der Phrase surrealistisch allein zufrieden gibt, scheint Tănase hypnotisch wirken zu wollen, zumal er auch Szenen und mythische Abläufe, immer wiederkehrende Handlungen, von Urbeginn an, heraufbeschwört: Am besten das Buch aufgeschlagen und wie unter Hypnose wirken lassen, in einem Zustand des künstlich durch das Lesen erzeugten partiellen Schlafs.

Deshalb schiebe ich hier eine Antwort von Hans Thill während eines Interviews von Public Republic (Meine Gedichte entwickeln sich aus der Sprache selbst - von 2008) ein:

Hans Thill: Was mir aufgefallen ist: es gibt im ganzen ehemaligen Ostblock eine Neigung, mit groteskem Humor auf die neuen Verhältnisse zu reagieren, etwa bei dem Ukrainer Juri Andruchowytsch und dem Slowenen Esad Babacic, oder dem Rumänen Julian Tanase, das gefällt mir sehr.

Natürlich geht es um ein Weltbild, in dem Frauen die neue Rolle spielen. Nehmen wir den Brief Abgrundes an den Schlaf, der da heißt: „Ich kann nur alleine träumen und ohne dass mich jemand berührt.“

Und er endet:

Ich gebe zu: Der Mann, mit dem ich zu jener Zeit sprach, gefiel mir, aber ich habe ihm nicht erlaubt, mich zu berühren. Ich war bei ihm zu Hause, wir sprachen miteinander, ich merkte, daß er gehemmt war und sich quälte, sein Blick durchbohrte mich, als hätten wir uns auf einer Postkarte befunden, die ich kannte. Tatsache ist, daß ich mich mit all den Messern in mir nur sehr schwerfällig bewegte, aber ich erlaubte ihm nicht, mich anzurühren. Dafür schenkte ich ihm eine wahre Geschichte, die aus mehreren wirklichen Träumen zusammengesetzt war.

In mehrere Hautschichten gehüllt,

   Abgrunde
    
Es folgt „Wer keine Feinde hat, erträumt sie sich“ (Die Frau kommt aus dem Meer. Ihre Kleider sind rot. Der Mann folgt ihr, tritt in ihre Fußspuren.)

Venus, die bei ihrer Ankunft aus dem Meer steigt. Und es wird biblisch – Die Erschaffung der Welt (1). Nicht irgendein Demiurg, welcher Emanationsstufe auch immer, ist der Schöpfer, sondern die Frau:
 
Am Anfang war die Frau, und ihr Wort war Flüstern, und das Flüstern der Frau schwebte über den Wassern, und das war der Anfang. Gott gab es nicht, und die Frau begriff, daß ohne Gott nichts möglich war. Godlem ist der Name Gottes von Anfang her, und sie die Frau, war diejenige, die Ihn aus weißer und roter Erde geschaffen hat. In jenen tief ins phantomatische Erdreich vergrabenen Händen wurde Godlem geboren, der in kürzester Zeit wuchs und wuchs, bis er ihre Gestalt erreicht hatte und ihr ähnlich sah. Und die Frau fragte sich: „Es ist nicht gut, daß Gott alleine ist, ich werde ihm einen zu ihm passenden Helfer machen.“ Und so schuf die Frau den Mann aus einem oberen Schneidezahn Gottes, denn GOTT BRAUCHTE EINEN SPIELKAMERADEN, UND DIESER KONNTE NUR DER MANN SEIN.

Godlem – Gott, halb Golem, halb Mann. Aber darüber die Frau als Schöpferin, die alles ihr ähnlich machen will. Eine deutlich unernste Genesis. Tănase parodiert auch das Neue Testament (Markus 3, 1-6), da ist die Frau dann Jesus:

Die Frau ging wieder ins Wasser. Dort befand sich ein Mann mit vertrockneter Hand. Die Pharisäerfische beobachteten die Frau, wollten sehen, ob sie ihn an diesem Tag heilen würde. Es war der Tag des Roten Wassers. Da sagte die Frau zu jenem Mann: „Erhebe dich und stehe in der Mitte!“ Dann fragte sie die Pharisäerfische: „Ist es am Tag des Roten Wassers erlaubt, Gutes zu tun oder Böses zu tun? Jemandes Leben zu retten oder es verloren zu geben?“ Aber die Pharisäerfische schwiegen. Also ließ sie einen wütenden Blick über ihnen kreisen – und die Wut der Frau kannte keine Grenzen – und sagte zu dem Mann mit der vertrockneten Hand: „Streck deine Hand aus!“ Er streckte sie aus, und die Hand genas. DIE PHÄRISÄERFISCHE ABER GINGEN AN LAND UND BERIETEN UNTEREINANDER, WIE SIE DIE FRAU LOSWERDEN KÖNNTEN.

Und er ging wieder in eine Synagoge, und dort war ein Mann mit einer verdorrten Hand. Sie beobachteten ihn, ob er ihn am Sabbat heilen würde, damit sie ihn anklagen könnten. Da sprach er zu dem Mann mit der verdorrten Hand: „Steh auf (und komm) in die Mitte.“ Und er sprach zu ihnen: „Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes oder Böses zu tun? Ein Leben zu retten oder zu töten? Sie aber schwiegen. Und er blickte sie ringsherum zornig an, betrübt über die Verhärtung ihres Herzens, und sprach zu dem Manne: „Strecke deine Hand aus.“ Und er streckte sie aus, und seine Hand wurde wiederhergestellt. Da gingen die Pharisäer hinaus und hielten sogleich mit den Herodianern Rat gegen ihn, um ihn zu verderben.
Jetzt kann ich es ja sagen, was Burcep bei Tănase bedeutet – es ist ein Wort für „Das Prinzip der kommunizierenden Träume“:

Du sagst Burcep, wenn du hereinkommen willst. Sagst Burcep und der andere spürt es. Jedesmal geschieht es genauso, dafür gibt es sogar Beweise. Burcep ist jener Zustand, da die einen von den anderen träumen, und die Geträumten alles spüren, von einem Ende zum anderen. Burcep ist die Verbindung zwischen dem Träumenden und dem Geträumten. Kann man’s hören? Abgrunde träumt.

Macrobius unterscheidet in seinem Kommentar zum Traum des Scipio fünf Hauptarten aller Träume: erstens, den Rätseltraum, griechisch „oneiros“. Zweitens die prophetische Schau. Drittens, den Orakeltraum. Viertens, den Alptraum. Und fünftens, die Erscheinung.

Über den Rätseltraum sagt Macrobius, dass er die Bedeutung dessen, was er mitteilen will, in befremdliche Bilder verbirgt und in Mehrdeutigkeit hüllt, die nicht ohne mühevolle Auslegung verstanden werden können. Aber dafür haben wir ja Jonas (von griech. Oionos, das Zeichen). In einer Traumbibliothek, die es bei Tănase an einer bestimmten Stelle gibt, werden alle Träume der Protagonisten aufgekauft – dies als ausgeklügeltes Sozialhilfeprogramm. Warum? Um die „Möglichkeitsformen des Unmöglichen“ zu ergründen. Zum Beispiel für ein gemeinsames Träumen von Verliebten. Auch wenn sie immer allein bleiben, sich aber auf ihrem Möbiusband als Erscheinung nähern können, wenn sie gegeneinander laufen. Wurde Eros nicht auch im Traum gezeugt und zwar vom schlafenden Überfluss und der sich heranschleichenden Bedürftigkeit?

Man könnte noch viel auflisten, Vergleiche ziehen zwischen Tănase und Michel Butor (Bildnis des Künstlers als junger Affe) oder zu René Char (Hypnos), oder Tănases Rätsel mit Heraklit vergleichen, z.B. (Fragment B 21): „Tod ist, was wir im Wachen sehen, was aber im Schlafe – Traum.“

Demnach wäre der Schlaf dem Wachen näher als unser angeblich so wachsames Tages-bewusstsein. Der Traum war nicht umsonst den Surrealisten so genehm. Doch Abgrunde rät Jonas auch: „Träum nicht alles auf einmal“.


Iulian Tănase: Abgrunde. Übersetzt von Ernest Wichner. Berlin (brueterich press) 2018. 134 Seiten. 20,00 Euro.
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