István Kemény: Ich übergebe das Zeitalter
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Jan Kuhlbrodt
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zu István Kemény: Ich übergebe das
Zeitalter
Man erlaube mir, von Gefühl zu
sprechen, auch wenn das in durchrationalisierten Zeiten unüblich sein sollte
und eher Fundamentalisten zugeschlagen wird, aber es ist mir das
Vordringlichste, wenn ich diese Gedichte lese. Traurigkeit, Belustigung. Nicht
im Wechsel, aber in Zusammenhang. Und natürlich klopft die Psychoanalyse sofort
an die Tür, diese Art von Medizin, die nicht heilt, aber bewegt. Und wenn man
sie mit Humor nehmen kann, heilt sie dann eben doch, zumindest solange man
lächelt.
Ich übergebe das Zeitalter
ist das dritte Buch des ungarischen Dichters István Kemény, das in der
Übersetzung von Orsolya Kalász und Monika Rinck erschienen ist. Dieses Mal im
Verlag Reinecke & Voß, und wie schon
die beiden anderen nimmt es mich auf seine Art gefangen. Das heißt, ich betrete
das dichterische Universum Keménys wie einen mir wohlbekannten Raum, meine das
Inventar entschlüsseln zu können, die Gegenstände ihrem Gebrauch zuzuordnen,
und dennoch decke ich wie in einem Memoryspiel immer wieder Karten auf, die ich
anders oder zumindest an einem anderen Platz vermutet hätte.
Geschichte ist verschoben. Aber
diese Verschiebung, die ein Wiedererkennen erinnert und unterläuft, macht sie
erst kenntlich.
Die erste Strophe eines kürzeren
Gedichtes im Band beschreibt so ziemlich das Gegenteil meiner Erfahrung. Ich
zitiere hier das ganze Gedicht:
Robinsons GrabinschriftSeit drei Millionen Jahren kehreIch immer wieder zum Wrack zurück.Ich habe noch immer nichts gefunden,Das wirklich brauchbar sein könnte.„Auch heute begab ich mich zum Schiffsrumpf:“Wild entschlossen bin ich hineingekrochen.Der Rumpf schaukelte im WasserWie das Wirkliche in seinem Gegenteil.

Vielleicht steckt ja in diesem
Gedicht zumindest ansatzweise ein Moment der Poetologie des ganzen Bandes,
eigentlich des ganzen zumindest mir bekannten Dichtens von Kemény.
Ein beständiges Zurückkehren in
einen geschichtlichen Moment, der sich natürlich in der Zeit verändert hat, wie
ein Schiffswrack eben, das verwittert, an dem sich Muscheln festsetzen, das
also eine Vergangenheit birgt, wie sie nie gewesen ist. Das Gedächtnis als
untergehendes Schiff. Die Crux der Psychoanalyse, die aus aktuell vorgefundenen
Bildern versucht, eine gewesene Realität zu „kunstruieren“, und das als „Rekunstruktion“ begreift.
Aber die Bilder sind aus Sprache gebaut und das Gefühl, dass mich angesichts
ihrer Kombinationen ergreift, ist eben ein Reflex auf Sprache und die historischen
Versatzstücke, die in ihr anklingen, wie Erinnerungen.
Monika Rinck, glaube ich, setzt in
ihrem Nachwort einen anderen Text des Bandes zentral, der auf den von mir
zitierten unmittelbar folgt und der Hypnotherapie heißt. Man kann ihn
als quasi szenischen Monolog eines Therapeuten lesen, gerichtet an einen
Probanden, oder das „Sie“, das im Text auftaucht, meint den Leser. In diesem
Fall also mich, und ich bin es selbst, der im Versuchsfeld in Trance versetzt
werden soll. Darauf könnte ich mich soweit einlassen, als dass ich für mich den
Probanden spiele und zumindest versuchsweise traurig werde, denn der Text
beginnt mit eben jener Anweisung
Sie sind jetzt traurig.Traurig, Traurig.Sie glauben, Sie waren noch nie fröhlich....
Und natürlich funktioniert diese
lange Beschwörung der Traurigkeit nicht, ohne auch ins Humorvolle ironisch zu
kippen:
Sie denken an ihre Geschwister, die Esoteriker,die den Künstlern stets mit sanftem Lächelnbegegneten, weil sie wußten,dass die Tiefe woanders ist,...
István Kemény: Ich übergebe das Zeitalter.
Gedichte. Hrsg. von Peter Holland. Übersetzt von Orsolya Kalász und Monika
Rinck. Leipzig (Reinecke & Voß) 2019. 88 Seiten. 12, 00 Euro.