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István Kemény: Ein guter Tag mit Tieren

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Jan Kuhlbrodt

Der Krawattenknoten
zu István Keménys Gedichten



ich war auch ein pilger, istván
jetzt habe ich einen gasthof für pilger
alles, was sich bewegt, kann bei mir schlafen.


Und vielleicht ist hier die Essenz lyrischer Dialektik formuliert. Das etwas Bewegtes zur Ruhe kommt, und damit zum Ruhemagnet wird, für das, was noch immer sich bewegt. Und gleichzeitig handelt es sich um eine Selbstansprache.

Es sind die letzten Verse des titelgebenden Gedichtes EIN GUTER TRAUM MIT TIEREN des ungarischen Lyrikers István Kemény, der jüngst im Berliner Verlag Matthes und Seitz erschienen ist. Übersetzt wurden die in ihm gesammelten Gedichte von Orsolya Kalász und Monika Rinck, die auch ein Nachwort beisteuerten.

Kemény ist 1961 in Budapest geboren, also in eine Zeit hinein, in der der osteuropäische Sozialismus sich auf jene Starre vorbereitete, die zu seinem langen mindestens zwanzig Jahre dauernden Ende führen sollte. Eine lange Zeit war das, und in diesem Auflösungsprozess lösten sich auch alle Gewissheiten, die man einander beigebracht hatte, eingetrichtert oder sich selbst übergeworfen. Am Ende steht ein von Gewissheiten befreites Individuum, dem nur eine Konstante bleibt: Das Vergehen der Zeit. Und diese Vergänglichkeit kann nach den Jahren der sogenannten Stagnation ein Aufatmen bewirken, wenn auch ein mehr oder minder melancholisches.

Mein Teewasser ist indessen im Kessel verzischt.
Wer immer ich einst war, jetzt bin ich es nicht.
Mein Leben kann auch ohne ein großes Finale
zu Ende gehen, still, wie die Zeile eines Gedichtes.


Ich lese diese Gedichte natürlich als die eines Zeitgenossen mit ähnlich realsozialistischer Vergangenheit. Aber einiges wird mir an ihnen erst klar, was ich über die Jahre vermutete zwar, aber mir kaum einzugestehen wagte, eben dass der Verlust aller Gewissheit einer Befreiung gleichkommt. Und diese Befreiung zeigt sich im Humor dieser Texte, der an keiner Stelle ein Knallerwitz ist, sondern fast sanft sich über die Strukturen legt, die er zitiert oder heranzitiert. Das kulminiert dann zum Beispiel in einem Poem, das den Krawattenknoten des zukünftig letzten ungarischen Ministerpräsidenten zum Gegenstand hat. Und gleichzeitig formuliert dieser Text einige poetologische Überlegungen.


Genau das erzählt man sich, und ob es nun so geschah
oder auch nicht, man kann über solche Anekdoten sagen,
dass sie die Vergangenheit und die Zukunft
in einer Weise in sich verdichten und dadurch
der Geschichte einen gewissen Sinn verleihen,
wie der ansonsten so überflüssig und entbehrlich
erscheinenden Krawatte durch den Krawattenknoten
ein gewisser Sinn verliehen wird.


Zu den Übersetzungen kann ich nur sagen, weil ich des Ungarischen so gar nicht mächtig bin, dass sie mir die Texte in einem Deutsch darreichen, das mir adäquat erscheint, dass sie den Reim nutzen, wo er sich anbietet, ohne ihn in eine neuerliche Zwangsstruktur zu verwandeln.


Der letzte Abschnitt des Nachwortes der Übersetzerinnen lautet sehr treffend:


Dann sträubt sich sein Fell angesichts des subversiven Witzes seines Halters, dem es irgendwie gelingt, argumentativ oder durch einen brüchigen Charme, die Unsicherheit der Existenz als Komplizin auf seine Seite zu bringen. Dann trifft das Gedicht – ganz gleich, wen es trifft – den Richtigen.


Dem ist nichts hinzuzufügen.


Istvàn Kemény: Ein guter Tag mit Tieren. Gedichte. Ungarisch / deutsch. Übersetzt von Orsolya Kalász und Monika Rinck. Berlin (Matthes & Seitz) 2015. 134 Seiten. 19,90 Euro.

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