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Ingibjörg Haraldsdóttir: Sehnsucht

Werkstatt/Reihen > Reihen > (Ich seh dich besser im) Morgen
Ingibjörg Haraldsdóttir

Sehnsucht

übersetzt von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer


Das Gedicht verlas Eliza Reid, Gattin des isländischen Staatspräsidenten Guðni Th. Jóhannesson und Co-Gründerin des Iceland Writers Retreat & Iceland Readers Retreat, am 31. Mai 2022 im Original und in Übersetzung während ihrer Eintragung in das Goldene Buch der Stadt Heidelberg.
 


ÞRÁ

Ljóðrænt þetta kvöld
að dregnum tjöldum:

dumbrautt vín í glasi
kristall skær og þögnin
flauelsmjúk og hlý

opin bók í kjöltu
sálin full af löngun
sálin full af þrá

ó að lífið
ó að lífið

ó að lífið væri ljóð.


SEHNSUCHT

Voller Poesie ist dieser Abend
mit den geschlossenen Vorhängen:

kastanienroter Wein in einem Glas
das Kristall leuchtet und die Stille
ist weich wie Samt und warm

ein aufgeschlagenes Buch im Schoß
die Seele voll Verlangen
die Seele voller Sehnsucht

oh wäre das Leben
oh wäre das Leben

oh wäre das Leben doch ein Gedicht.


Ingibjörg Haraldsdóttir wurde 1942 in Reykjavík geboren, studierte später an der staat-lichen Filmschule in Moskau, welche sie 1969 mit dem Regiediplom abschloss. Danach lebte und arbeitete sie für einige Jahre in Havanna. Während ihrer Zeit in der UdSSR und Kuba arbeitete sie auch als Journalistin und Übersetzerin für die isländische Zeitung Volkswille, bei der sie nach ihrer Rückkehr nach Reykjavík im Jahre 1975 weiterhin als Autorin und Filmkritikerin tätig war.
Seit 1981 allerdings arbeitete sie nur noch als freischaffende Schriftstellerin und Über-setzerin. Seit ihrem ersten Gedichtband, Þangað vil ég fljúga / Dorthin will ich fliegen (1974), veröffentlichte sie mehrere weitere Gedichtbände und machte sich auch als Übersetzerin aus dem Spanischen und Russischen (u. a. von Werken Dostojewskis und Bulgakows und der Lyrik Anna Achmatowas) einen Namen. Für ihre literarische und übersetzerische Arbeit wurde sie mit verschiedenen Ehrungen bedacht, so mit dem Guðmundur-Böðvarsson-Poesiepreis und dem Isländischen Literaturpreis.
Sie starb, als Schriftstellerin und als Mensch hochgeachtet, am 8. November 2016.
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