Inger Christensen über Blakes Newton
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William Blake: Newton, 1795
Inger Christensen: Der Schatten der Wahrheit
Keiner kann sehen, ohne mit
einem Blick zu sehen, der selber ein Teil des Betrachteten ist. Deshalb wird
Blakes Doppelbild des Helden auch ein Bild vom Schatten des Helden, von dem
fruchtbaren, vielfältigen Felsen, von dem er ein Teil ist, mitten in dem
geschlossenen Himmelsdunkel, während er nicht darauf achtet, dass das Licht,
das er sieht, ein Licht ist, das aus seinem eigenen Blick kommt. In dieses
schattenvolle Gegenbild gesetzt, könnte Newton geradezu an Prometheus gemahnen.
Zwar sind Newtons Herz, Geschlecht und Leber nur verborgen anwesend, übrigens
genau im Zentrum des Bildes, so dass kein Adler tags seine Leber zerhacken und
kein Zeus nachts sie herauswachsen lassen kann. Aber es hat den Anschein, als
hätte er, in all seiner nackten Unschuld, den Göttern das Feuer gestohlen und
als wäre er zur Strafe für seinen Aufruhrgeist an den Felsen gefesselt, nicht
auf die Berge des Herzens, sondern auf die Gehirns gesetzt, sozusagen in seinen
eigenen Schädel. Ein Bild von einer menschlich großartigen Ohnmacht, wo Newtons
Zirkel mit seiner übermäßigen Spannweite, zu dem Adler verwandelt ist, mit dem
er sich selbst martert. Tag für Tag derselbe rührende Versuch, die Wahrheit aus
dem Leib zu quälen und den Verstand dazu zu bewegen, Gottes Aufenthaltsort zu
verraten.
Aus Inger Christensen: Der Schatten der Wahrheit in Der Geheimniszutand und Gedicht vom Tod, Essays von Inger Christensen (Hanser Edition Akzente, aus dem Dänischen von Hanns Grössel, 1999)