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In die Mitternacht gefaltet

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In die Mitternacht gefaltet


Veranstaltung im Lyrik Kabinett, 23.09.2013, 20 Uhr


In der vierten Auflage der Veranstaltungsreihe Der doppelte Horizont, der jeweils zwei Lyriker zusammenführt, die „sich bespiegeln“, präsentierten Àxel Sanjosé und Ron Winkler ihre neuen Gedichtbände. Frau Ursula Haeusgen vom Lyrik Kabinett stellte zunächst die Reihe und anschließend die Akteure des Abends vor. Schon die Einführung Karin Fellners war ein Highlight: ihre genauen, analytischen Ausführungen trafen vielfach minutiös den Punkt. Vorgestellt wurden die beiden Dichter als sehr unterschiedlich in ihrem Schreiben.


Karin Fellner während der Anmoderation.

Ein Münzwurf hatte über die Reihenfolge entschieden. Nicht nur deshalb wohl ging die Moderatorin bei Àxel Sanjosé gleich auf Mallarmé ein und sprach bei den Texten des Katalanen, der in München lebt, von einer Verschiebung der Worte ineinander, untereinander, der Laute, als Merkmal. Zur Referenz dieser Methode brachte Fellner Mallarmés berühmtes „Ptyx“-Sonett ins Spiel, in dem ein Teil der Endreime auf -yx komponiert ist: „Auf einem seitentisch im leeren saal: nicht ptyx / Schmückt ihn als eitler tand – die muschel – klanggeboren … /(Der Meister stieg hinab die tränen aus dem Styx /Mit ihr zu schöpfen die das Nichts sich stolz erkoren).“ Ptyx bedeutet „doppelt gefaltet“- und Anaptyxis, der Titel des neuen Gedichtbands, beim Rimbaud Verlag dieses Jahr erschienen, Sprossvokal.

Auch Sanjosé las ein Sonett aus seinem Kapitel Musterhalde, in dem lyrische Muster ausprobiert werden, das beginnt:


An weiße Mauern scheint die Sonne streng und friedlich,
ein schwerer Hauch von Nichts und Allem rührt die Pinien,
und Bänke schmücken leer den Dorfplatz. Unermüdlich
trennt Schatten Staub von Staub mit immer neuen Linien.

                                                                (aus: Südliches Sonett)

Die Moderatorin hatte in ihrer Einführung angekündigt, dass bei Sanjosé alles Seiende „leichenhaft und fragmentarisch“ dargestellt werde, aber zugleich ironisch. Dennoch, in manchen Wortschöpfungen sei auch das Aufschimmern einer möglichen Utopie zu spüren.


Ein würdiges Wahrzeichen
dieses Abwesens,
komm lass uns gehen,
die Dinge sind und sind,
die Luft klumpt sehr.
                                                               (aus: Die Bewandtnis)


Jan Kuhlbrodt schrieb in seiner Rezension, Sanjosé präsentiere „in diesem Band Gedichte, die trotz konzeptioneller Stringenz eine außerordentliche Vielfalt erzeugen“.  


Àxel Sanjosé liest aus dem Kapitel "Musterhalde".

Bei Ron Winkler aus Berlin sprach Karin Fellner während ihrer Einführung von den Übersetzungen des Autors aus dem Amerikanischen, die stilistisch teils auf ihn abgefärbt hätten, den textlichen Überblendungen in seinem Werk, den Paradoxien – nichts bei diesem Dichter bliebe statisch, es entstünde ein prozessartiger Raum, der nicht mehr – wie in den früheren Gedichtbänden – eine melancholische Entzauberung verursache, sondern eine poetische Verzauberung. Neue Wortbezüge würden geschaffen, nicht nur surreale Effekte, die sprachlichen Zusammenhänge seien sehr ausdifferenziert – kurzum, Winkler könne man einen Subtilitätsingenieur nennen, auch einen Konjektionssachverständigen. Er spiele mit der Leseerwartung: mache manchmal tabula rasa mit der Deutung, elastisch, agil dabei seine Sprache, die Zusammenhänge. Fellner nannte sie Surrealien. Wird die Semantik aufgegeben, bleibt der Klang. Der Klangkörper als Gedicht.


Unter dem (im Vergleich zu früheren geradezu romantisch anmutenden) Titel „Prachtvolle Mitternacht“ erschien gerade Ron Winklers neuer Band bei Schöffling & Co. Aus ihm las er vor und begann mit dem ersten Zyklus, den Capricen.


mir fehlt die Tonleiter, um von diesem Baum
zu ernten.
                   dafür kann ich achtzig Mal
pro Minute ehrenhaft zwinkern.
                                                  ein Erbe
der Kindheit.
                    ich sag Souvenir.
                                                  ich vermisse
die Gangart der Merowinger.
                                                  und in dieser Sprache
das Wort Luu. (…)

                                                               (aus: Gedanken des Piloten bei eingeschaltetem Autopilot)

Zum Schluss las Winkler das Gedicht Prospekt, das seine „Prachtvolle Mitternacht“ eröffnet. Ein Spiel mit den Möglichkeiten der Negation, mit dem Transitiv und Intransitiv der Sprache. Es endet:


(…)
also nicht mehr das Gedicht zwischen Schmetterling
und Untergang. nicht mehr das
Daktylosschwert. Nicht mehr dieses Anstatt
bewohnen, bewahren, bewölken. nicht mehr zu Babys
geschminkte Wörter, nicht mehr nur Zukunft.
nicht mehr ein versehentliches Behältniß.
und nicht mehr so auch auf Erden.
nicht mehr die, die Mandelbäume umarmen,
in ihre private Nacht geleiten. nicht mehr zu wenig Körper
haben für alle
Begehren. auch nimmermehr auf der Suche
nach der Orgonfrucht der Weisen.
und nie mehr achromatisches Nichts. oder nie mehr,
wenn man verliebt ist, sagen: ich bin gezählt.
aber und ist eine Rose
und also mehr als eine Rose
und also zugleich keine Rose mehr. nicht mehr. und auch: nie
mehr: nie mehr
nicht.

Ron Winkler erklärt, dass er sich selbst nicht unbekannt bleiben will und deshalb in seinen Versen sucht.

Im Nachgespräch mit den beiden Dichtern erinnerte Karin Fellner an die Bennsche Frage nach dem Satzbau – an das Spiel mit der Grammatik bei beiden, vor allem bei Sanjosé, an die Vertauschung der Pole bei Winkler. Wie sie es mit dem Satzbau nun hielten, wollte sie von beiden wissen.
Winkler greife beim Schreiben auf Satzbau zurück, Sanjosé sah das ähnlich:  Auch wenn er gelegentlich – aber anders als etwa August Stramm, der Expressionist – Abbrüche von Worten hineinschreibe, von Sätzen (Anakoluthe), so bleibe der Satzbau und damit die Syntax als Bezugspunkt erhalten; derweil Winkler eine starke Metaphorisierung verwende, z.B. Daktylosschwert oder Teenagerpflanze – deshalb wolle Winkler nicht auch noch die Grammatik brechen.

Schließlich wollte die Moderatorin noch wissen, inwieweit die beiden es mit dem Lieblingswort von Allen Ginsberg hielten, candor, das er von Walt Whitman übernahm: Aufrichtigkeit, Offenherzigkeit.
Winkler antwortete: wer die Blende zwischen sich und dem Thema beim Schreiben herunterziehe, der sei offenherzig, der sei echt. Man dürfe den Ausdruck nicht auf Offenheit reduzieren. Winkler wolle nicht plural aufrichtig sein – suche im Schreiben jemand, der so denke wie er. Er wolle sich selbst nicht unbekannt bleiben. Denn Denken sei Sprache.
Sanjosé bejahte das Wort (candor), das ja auch das Glühende, Bekenntnishafte impliziere, das einen „hermetischen Lyriker“ (wie ihn) ausmache. Warum die hermetische Methode? Weil sie gegen ein Abrutschen in den Kitsch wirke.


Die Lesungen der beiden so unterschiedlichen Dichter bildeten einen spannenden Gegensatz, der doch bei aller Pointiertheit der beiden Stile einige sehr ähnliche Aspekte und Berührungspunkte bot. So gab es Übereinstimmungen schon in den Worten - „melvilleblau“ (Ron Winkler) und „turmblau“ (Àxel Sanjosé) bildeten ein solches Korrelat in der poetischen Farbgebung.


Kristian Kühn / Armin Steigenberger



Àxel Sanjosé: Anaptyxis. Gedichte. Rimbaud Verlag Aachen 2013. 49 S. 12,– Euro.
Ron Winkler: Prachtvolle Mitternacht. Gedichte. Frankfurt a. M. Schöffling & Co 2013. 100 S. 18,95 Euro.

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