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Ilse Hehn: Wir - Spiel der Gezeiten

Gedichte > Zeitzünder
Ilse Hehn

 
Für ihr Gesamtwerk erhielt Ilse Hehn 2023 den Andreas-Gryphius-Literaturpreis, der für Arbeiten der Verständigung zwischen Deutschen und ihren östlichen Nachbarn verliehen wird.
 


WIR – SPIEL DER GEZEITEN

Zerfressen das Ufer – wehrhafter Rand der
Austernmuschel
Gleich Botschaften krallen Wellen ins
Fleisch der Felsen – Feinde, darüber ein
spinnenförmiger Himmel, der Dolch Sonne;
dort Vögel, wie Decksteine, reglos auf den Klippen
Umarm mich, sagst du, drückst mein Knie an
den Stein,
ablesbar deine Küsse wie am gefalteten Gneis
die Metamorphose des Steins.
Dickbäuchige Nester der Kormorane an den
Klüften der Felswände, Inseln (augenklein),
verschwinden im Dunst der Wellen, im
Gehör des Wassers,
                              am Rand der Erde:
                                                                 Finistère

Wir ergreifen den Mittag, das ertrunkene Land,
Armor, Watt und Meer eingescannt in
deiner Haut,
zärtlich nass unsere Zunge, als wär`s ein
anderes Leben, nicht eingeschlossen im Kern einer
Traube, in der Haut der Schlüsselblume (matt unter
der Oberfläche, ängstlich)
                                              wir –
                                                       Spiel der Gezeiten

Die scharfe Klinge der Steine im Brennpunkt
flimmernder Hitze zeichnet das Abbild Weite.
Dieses Gleiten der Kähne, gelöst wie
unsere Worte, herrenlos frei die Linie der Vögel.
Am dünnen Seil hängt der Augenblick, schutzlos
unsere Helle, die geöffnete Stunde, (doch) der
Atlantik trägt den Himmel voller Weiterungen,
vertraut sich selbst

Entflogen die Felder, ihr buntes Harlekinskleid,
jeder Flicken durch windenüberwucherte
Erdwälle gegen den anderen abgesteppt, fern
der träge Schritt bretonischer Kühe, die
dampfende Senke Land –
                                                              finis terrae

Gewohnheiten der Krebse zwischen der
Last der Steine,
die Küste stößt mit roten Granitzähnen ins
Wasser, zersplittert Zeit;
manchmal bringt das Meer seine Schwächen mit,
in Gebärden, empfindsam, als gäb`s einen
Beweis für sein Geheimnis, als wöge es Licht,
                                  zerstäubt in stürzendes Silber

(Bretagne)


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