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Ilse Hehn: Diese Tage ohne Datum

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Barbara Zeizinger

Ilse Hehn: Diese Tage ohne Datum. Mit 45 bildnerischen Arbeiten der Autorin. Ludwigsburg (Pop Verlag) 2022. 320 Seiten. 23,00 Euro. ISBN 978-3-86356-353-0

Reiche Tage


Dieses Sich-aus-dem-Staube-Machen, wie Mücken überfällt es mich manchmal.
Entscheidungen aus dem Augenblick heraus. Ich reiße die Außenhaut der Tage auf, sage „Die Welt ist, und sie ist bunt und fassbar“, sage wie Gentleman Phileas Fogg zu Passepartout „In zehn Minuten reisen wir ab!“

Mit Bezug zu der Gedichtzeile Man sollte sich aus dem Staube machen von Mascha Kaléko beginnt Ilse Hehn in ihrem neuen Buch, Diese Tage ohne Datum das Kapitel über eine Reise nach Samos, die sich einreiht in die vielen Reisen in alle Himmelsrichtungen. Es ist ein poetisches Reisetagebuch, wobei das Wort poetisch ganz groß geschrieben werden muss. Denn gleichgültig, wo sich die wissbegierige und gleichzeitig sehr kenntnisreiche Autorin aufhält, geht es ihr darum, wie Ulrich Steenberg in einem Vorwort schreibt, in Landschaften, Kultur, dem unterschiedlichen südlichen oder nördlichen Licht eine innere Heimat zu entdecken.

Ilse Hehn, die nicht nur Dichterin, sondern auch bildende Künstlerin ist, feiert in diesem Jahr ihren 80igsten Geburtstag. 22 Bücher hat sie bisher geschrieben, Lyrik-, Prosabände und Kunstbücher, wobei oft, wie auch im vorliegenden Buch, Bilder und Texte vereint sind, in einen Dialog treten.

Ilse Hehn stammt aus dem rumänischen Banat, wurde dort von der Securitate beobachtet, bis sie 1992 in die Bundesrepublik ausreiste. Aus dieser Zeit in Rumänien stammt die Sehnsucht, sich umzusehen in der Welt: Und Merkur, Gott der Reisenden, entführte mich, tief in mir der beglückende, schmerzende Dolch Fernweh.

Dieses führt die Autorin in dem Buch als Erstes in die eisige Kälte nach Lappland, wo sie stehend! auf einem selbst gelenkten Hundeschlitten durch das Land fährt. Manchmal ist es schwierig, die Hunde haben ihren eigenen Kopf, Essen und Unterkünfte sind frugal, aber für Ilse Hehn dominiert die Schönheit des Landes, sie lässt sich in die Weite der Landschaft, in die Stille fallen. Abends geht sie mit ihrem Begleiter an einen See, wo es kalt, fremd, zum Jubeln und zum Frieren ist. Um uns Spuren von Wörtern, Durst, Pulsschlag. Du legst dich in meinen Satz. Ich verschweige den Text. Wir brauchen uns. Eisvogelblau Nacht.

Da wir mit der Autorin zu vierzehn Orten kreuz und quer durch Europa und nach Ägypten fahren, lernen wir sehr unterschiedliche Länder mit ihren Kunstwerken, Menschen, vor allem aber mit ihren verschiedenen Landschaften kennen. Dabei gelingt es Ilse Hehn meist schon am Anfang des jeweiligen Kapitels, Wesentliches zu verdeutlichen. So heißt es im Frankreich-Kapitel bei der Begegnung mit der Loire: Endlich atmet das Land. Kleine Inseln schlafen als spitze Aprikosenkerne zwischen den Schalen der Steine, verloren im sandigen Wasser.

Und zu Schottland: Die Distel -stachelig und lieblich zugleich, zufrieden mit dem kargsten Boden, unausrottbar, Symbol des Landes. Sinnbild der Tapferkeit, die einer braucht, um Stürme aller Art zu widerstehen.

Bei Capri hingegen ahnen wir bereits bei der Überschrift, dass die Insel nicht zu den Lieblingsorten der Autorin zählen wird: Capri sehn und nicht sterben.

Wo immer Ilse Hehn hinfährt, nie bleibt es bei Äußerlichkeiten, wovon sie erzählt. Licht und Wasser haben es ihr angetan, bei Mont St.- Michel läuft sie barfuß über eine weite Fläche von feinem, nassem Sand, sie fühlt sich an wie Haut, hier und da ein Wasserauge, Priele, die den Himmel spiegeln, Farben lösen sich auf, Sand und Himmel verschmelzen zu einer weichen Stille.

In dem Kapitel über Samos erfahren wir einiges über die Götter, die der Autorin wegen ihrer Menschlichkeit sehr sympathisch sind. In dem Abschnitt über Schottland spult sie in Sekundenschnelle das königliche Puppentheater ab, entwirft in der klassischen Einheit von fünf Akten Leben und Tod der Mary Stuart. In den Städten Rom, Florenz Venedig sehen wir Kirchen, Denkmäler, Brunnen mit den Augen der Kunsthistorikerin Ilse Hehn. Doch auch hier gibt es Raum für Kleinigkeiten. Wenn sie in Rom beispielsweise dem Rummel entflieht und sich in die abgelegene – nomen est omen – Via della Pace in eine Trattoria für Einheimische begibt.

Bei aller Begeisterung wahrt Ilse Hehn, wenn nötig, eine kritische Distanz, sieht und beschreibt auch Orte, die nicht alltäglich sind. So beispielsweise in Ägypten, wenn sie nur im Schutz von Kalaschnikows tragenden Polizisten reisen kann. Sie sieht Orte, die nicht auf eine Ansichtskarte passen. Der Nil, an der Ufer-Promenade Palmen im Licht. Die Nebengassen, Müll, Armut, die an Gesichtern, an rostigen Reifen der Fahrräder, am zerkratzten Lack der Autos, an den schrundigen, bröckelnden Hausfassaden klebt.

Aber vor allem gibt es in Ägypten viel zu bestaunen: die Pyramiden, Geschichte und Geschichten und die zahlreichen Angehörigen der ägyptischen Götterfamilie. Auch hier wieder die Bedeutung des Lichts. Licht fällt durch das geöffnete Tor der Grabkammer. Wärme des Lebens, die sich in uns ausbreitet. Reiche Tage.

Zwischen den oft assoziativen poetischen Prosatexten stehen noch viele Gedichte. Teilweise greifen sie das zuvor Geschriebene auf, teilweise stehen sie für sich allein. Jenseits des Tages heißt ein Gedicht, das sie ihrem häufigen Reisebegleiter, dem verstorbenen Freund B. gewidmet hat.

Eskimos haben zweiundfünfzig
Ausdrücke für Schnee weil er
für sie wichtig ist
wir haben für Liebe einen

Natürlich dürfen bei der bildenden Künstlerin Ilse Hehn Fotos, Collagen, Bildüberschreibungen nicht fehlen. Zusammen mit den Prosatexten und den Gedichten bilden sie ein Gesamtkunstwerk. Unmöglich, sie alle zu beschreiben. Lesen und schauen Sie selbst. Unbedingt. Es lohnt sich.


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