Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit
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Michael Braun
„Die Flucht aus der Zeit“ : Der Dadaist
als Konvertit
Hugo Balls
Hauptwerk ist eine faszinierende Wunschbiografie
Das biblische
Gleichnis vom verlorenen Sohn, der nach vielen Irrungen und Wirrungen ins
Vaterhaus zurückkehrt, hat der Ur-Dadaist und Mystiker Hugo Ball (1886-1927) in
seinen letzten Lebensjahren als Chiffre für seine eigene Existenz verstanden. 1912
hatte Ball im Zorn die katholische Kirche verlassen, war dann aber 1920 in die
katholische Gemeinschaft zurückgekehrt und hatte 1922 die Generalbeichte
abgelegt. Fortan war er bestrebt, sein eigenes Leben als eine über viele Umwege
verlaufende, letztlich aber folgerichtige Konversion zu deuten, als Einkehr in
eine „berauschte Gotteslehre“, die sich in leidenschaftlicher Hinwendung zu
einem mystischen Eremitentum manifestierte. Auf drei Heiligenporträts, die er
1922 unter dem Titel „Byzantinisches Christentum“ veröffentlicht hatte, wollte
er ein Tagebuch folgen lassen, das „in einer breiten Kurve“ seine „Rückkehr zur
Kirche aus dem modernen Leben“ darstellen und dabei unter dem Titel
„Konversionen“ die philosophischen und künstlerischen Hintergründe der Zeit
ausleuchten sollte. Das ist der Ausgangspunkt für sein Projekt „Die Flucht aus
der Zeit“, in dem Ball seine Tagebücher der Jahre 1913 bis 1923 auswertete, zusätzlich
aber viele spätere Aufzeichnungen in das im Januar 1927 erschienene Werk
einschmuggelte.
„Die Flucht aus der Zeit“ darf als das Hauptwerk Hugo Balls gelten, es entwickelte sich nach seinem Tod zum meist zitierten Quellenwerk zur Geschichte des Zürcher Dadaismus, das bis heute einen unerschöpflichen Fundus für alle Diskussionen über die literarische Avantgarde der Zwischen-kriegszeit liefert. Nach vielen Jahren akribischer Sichtung der Quellen ist jetzt innerhalb der Hugo Ball-Werkausgabe im Wallstein Verlag die „Flucht aus der Zeit“ in einer penibel kommentierten Neuausgabe erschienen. Herausgeber des stattlichen 720 Seiten-Bandes sind Eckhard Faul, der Leiter der Hugo Ball-Sammlung in Pirmasens, und Bernd Wacker, der ehemalige Leiter der Karl Rahner-Akademie in Köln und Experte für die theologischen Kraftlinien in Balls Werk.
Die beiden Herausgeber konnten dabei auf die umfangreichen Vorarbeiten von Ernst Teubner zurückgreifen, des früheren Leiters der Hugo Ball-Sammlung, der schon ab 2010 ausgiebige Recherchen zu Balls Opus Magnum zusammengetragen hatte. Neben dem Originaltext, der in drei Kapitel unterteilt ist und 250 Seiten umfasst, haben die Herausgeber im Anhang erstmals aufschlussreiche Vorstufen zur „Flucht“ veröffentlicht, insgesamt 28 Fragment gebliebene Seiten, die als einzige Originale erhalten geblieben sind, während die Originaltagebücher Balls von 1913 bis 1921 als verschollen gelten müssen. Die restlichen 400 Seiten des Bandes füllen die Kommentare der Herausgeber, das Nachwort von Bernd Wacker und die sehr zahlreichen Rezensionen des Bandes aus den Jahren 1927/28, wovon einige monierten, dass in Balls „Flucht“-Buch seine anarchistischen und staatskritischen Positionen unterbelichtet bleiben.
Diese
Neuausgabe der „Flucht aus der Zeit“ darf als Meilenstein der Hugo
Ball-Forschung gelten. Denn dank der sorgfältigen Erschließung der Manuskripte und
noch unveröffentlichter Aufzeichnungen wird hier von den Herausgebern erstmals
ausführlich und en detail nachgewiesen, dass Hugo Ball das katholische
Selbstverständnis seiner späten Jahre in seine frühere Lebensphase
rückprojiziert hat. „Die Flucht aus der Zeit“ ist somit keine um chrono-logische
Genauigkeit bemühte Lebenserzählung, sondern eine Wunschbiografie mit stark
katholischem Bekenntnischarakter. In den hier erstmals veröffentlichten
Fragmenten finden sich dazu einige bezeichnende Sätze. „Ich habe keinen
Gedanken, der mir selbst gehört, sie gehören alle der Kirche“, heißt es an
einer Stelle, die freilich ebenso wenig
Eingang fand in das veröffentlichte Werk wie viele Phantasien zur Präsenz der
Dämonen: „Alle Dämonen sind losgelassen und sperren den Weg zum Innern der
Tempel. Bei den Flügeln stehen Eremiten der Verwüstung, und eine bissige Lauge
tropft auf die Scheitel derer, die an den verschlossenen Toren rütteln.“
Die berühmte Textstelle,
in der Ball seinen legendären Auftritt als „magischer Bischof“ mit Schamanenhut
im Zürcher Cabaret Voltaire am 23. Juni 1916 schildert, erweist sich nun als
Rückdatierung einer Tagebuch-Notiz vom Oktober 1922. Ball war 1922 ein
begeisterter Leser der „Confessiones“ des Kirchenlehrers Augustinus und seine
Notizen dazu lieferten ihm die Vorlage für die Beschreibung der Dada-Urszene
von 1916. So wird der Auftritt als Dadaist und Rezitator von Lautgedichten als
eine Art liturgische Offenbarung dargestellt: „Da bemerkte ich, daß meine
Stimme, der kein anderer Weg mehr blieb, die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation
annahm, jenen Stil des Meßgesangs, wie er durch die katholischen Kirchen des
Morgen- und Abendlandes wehklagt.“ Sein Tagebuch-Projekt wollte Ball
ursprünglich auf zwei umfangreiche Bände aufteilen, auf Wunsch seines Lektors
Ludwig Feuchtwanger musste er aber gewaltige Kürzungen vornehmen, so dass nur
die schönsten und flirrendsten Partien seiner poetisch-theologischen
Reflexionen ins Buch gelangten.
„Die Flucht aus
der Zeit“ ist bis heute eine faszinierende Lektüre, eine inspirierte
ästhetische Theorie eines zu vielen intellektuellen Überraschungen befähigten
„Kirchenpoeten“ (so Hugo Ball in seinem Roman „Tenderenda der Phantast“ über
sich selbst), die auch für die Dichter der Gegenwart Pflichtlektüre
bleibt.
Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit. Hrsg.
u. kommentiert v. Eckhard Faul und Bernd Wacker. Wallstein Verlag, Göttingen
2018, 728 Seiten, 44 Euro