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Horst Samson: Vom Auftauchen und Verschwinden der Landschaft

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Anton Sterbling

Vom bildlichen Reden des Geistes


Jacob Burckhardt schrieb in seinen Weltgeschichtlichen Betrachtungen: „Unbegnügt mit bloßer Kenntnis, welche Sache der Spezialwissenschaften, ja mit Erkenntnis, welche Sache der Philosophie ist, inne geworden seines vielgestaltigen, rätselhaften Wesens, ahnt der Geist, daß noch andere Mächte vorhanden seien, welche seinen eigenen dunklen Kräften entspre­chen. Da findet es sich, daß große Welten ihn umgeben, welche nur bildlich reden zu dem, was in ihm bildlich ist: die Künste.“ Unter den Künsten ist neben und zwischen der Malerei, der bildenden Kunst und der Musik wohl die Lyrik jene Schreib- und Sprechweise, die – soweit sie als künstlerische Ausdrucksform tatsächlich gelungen erscheint – jene „dunklen Kräfte“ des „Geistes“ bildhaft anzusprechen und auszudrücken vermag, die „als große Welten ihn umgeben“. Bildlich heißt zunächst, in Sprachbildern, sprachlich entworfenen Bildern, die als solche auf uns wirken, zu sprechen, und heißt zugleich eine metaphorische Sprechweise, also eine derartige, die stets auch auf anderes, auf andere Bedeutungsebenen und -zusammenhänge ver­weist, als sie unmittelbar aussagt.

In Anlehnung an Karl Jaspers (Die Sprache, in: Jaspers, Karl: Was ist Philosophie? Ein Lesebuch, 1991) kann man dem Gedanken folgen „Das Offenbarwerden des Seins geschieht in Bedeutungen.“ Zur Bedeutung als „Grundbezug“ gibt es die Erläuterung: „er ist nicht Gegensatz und nicht Identität von zweien, sondern dieses durch nichts anderes zu erhellende Ineinandersein zweier im Bedeuten. Es umfaßt im besonderen: Zeichen und Sinn, Gleichnis und Verglichenes, Symbol und Gehalt usw. Es genügt nicht zu sagen, eines verweise auf das andere, eines werde im anderen gemeint, eines repräsentiere das andere: immer ist das Bedeuten darüber hinaus ein Mehr und ein Ursprüngliches.“ Zum Grundphänomen der Sprache meint er sodann: „Die Laute sind nicht mehr nur Laute, sondern Lautbilder. Die Ge­staltung der Lautbilder, ist die Kunst der Sprache“. Wichtig für unseren weiteren Überlegungsgang ist nun Folgendes: Im Hinblick auf die Sprach­verwendung kann man zwei sich abwechselnde und teilweise auch ineinan­der übergehende, aber doch zugleich distinkt unterscheidbare Möglichkei­ten ausmachen, die Nutzung der Worte „in ihrer eigentlichen Bedeutung“ und ihre Verwendung „als Metaphern“, wobei die „Universalität der Meta­pher“ als ein Ursprungsmotiv der Sprache in der Erschließung und Aus­drucksmöglichkeit des Sinns und der Bedeutungen des „Seins“ angesehen werden kann. Vertiefen lässt sich zudem die Unterscheidung von „Zei­chen“ und „Worten“. Zeichen, wie sie zum Beispiel als Formeln (in der Mathematik und in den Naturwissenschaften) oder als Operationszeichen in wissenschaftlichen, insbesondere logischen Aussagesystemen vornehmli­che Verwendung finden, sind zunächst willkürlich festgelegt, dann aber, einmal definiert, eindeutig, funktional bestimmt, haben endliche, begrenzte Bedeutungen und sind zumindest ihrem eigenen Geltungsanspruch nach „restlos klar“. Worte hingegen sind „geschichtlich geworden“, „vieldeu­tig“, sie sind vom „Umgreifenden“ getragen und mitbestimmt, Worte sind zugleich „unersetzlich“, „daher irgendwie unübersetzbar, wie Gemüt, Geist, Idee, Esprit, Elan usw.“ und „In Worten bleibt immer ein Rest, der das eigentliche Rätsel ist.“ In Worten – auch und nicht zuletzt in als Meta­phern in der Lyrik verwendeten Worten – schwingt, wie in ausdrucksvoller Malerei oder in den faszinierenden Klangbildern der Musik, das „bildlich“ uns ansprechende der „großen Welten“ des Geistes und seiner ihm inne­wohnenden „dunklen Kräften“ mit.

Solche großen Schubladen sind vermutlich hilfreich, die Lyrik Horst Sam­sons angemessen einzuordnen. Bereits vor einigen Jahren schrieb ich in einem Band über rumäniendeutsche Autoren (Über deutsche Dichter, Schriftsteller und Intellektuelle aus Rumänien. Autorenportraits, Essays und Rezensionen, 2019): „Was das Lied betrifft, so ist die Dichtung Horst Samsons gerade kein „Abschied vom Lied“, weder programmatisch noch der Schreibweise nach. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass das Lied, dass Gitarre und Gesang, dass Balladen und Songs, ein fester Teil seines öffent­lichen künstlerischen Repertoires bilden. Auch seine lyrische und epische Dichtung findet im Rhythmus und Takt, in der Klangfarbe oder in den Sprachbildern häufig mittelbar oder auch unmittelbar zur Liedform, manch­mal durchaus im herkömmlichen Sinne, zumeist aber in einer ganz eignen und unverkennbar akzentuierten Weise. Dieser Hintergrund seiner Kreati­vität bringt wechselvoll das zornige, das revoltierende, das pathetische Ge­dicht, das wortgewandte, wortverspielte auch vielfach das wortgewaltige, ebenso das melancholische, das verstörte, das bizarre, das ins Absurde glei­tende oder auch das verzweifelte, um existenzielle Ohnmacht gravierende Gedicht hervor. (…) Tatsächlich erscheint es so, als ob Samson seine Zei­len und Verse, seine kurzen und langen Gedichte und Texte, zumeist mit einer spontanen und höchst trefflichen Intuition und zugleich mit einer spielerischen Leichtigkeit, wie den begnadeten Liedersänger vorausgegan­gener Jahrhunderte, gelingen. Dabei sind seine Texte allerdings keineswegs leichtfertig, wie nicht zuletzt die lange, immer wieder neu reflektierte und wahrscheinlich auch mühevolle Entstehungsgeschichte seines Poems „La Victoire“ erkennen lässt. (…) Wie bei „angeborenen“ Künstlern hat man bei Horst Samson nicht selten das Gefühl, dass seine Instrumente wie von selber spielen. Dies erzeugt dann den betörenden Eindruck der üppigen Gleichzeitigkeit der Assoziationen und Motive, des kreativen Überschus­ses, der künstlerischen Eindringlichkeit, Vehemenz und Leidenschaft. So hört man auch im Hintergrund der Texte fast immer die Melodie, das Lied, manchmal ganz deutlich, manchmal als bloße Ahnung, manchmal in die Tiefe der Worte versunken. Gleichzeitig brechen sich in seiner Dichtung ständig die vielfältigen Splitter der Wirklichkeit im überraschenden Reso­nanzraum des Imaginären.“

All diese Feststellungen, die seinerzeit insbesondere im Hinblick auf die Bände: La Victoire. Poem (2000), Und wenn Du willst vergiss (2010), Kein Schweigen bleibt ungehört. Gedichte (2013), Das Imaginäre und unsere Anwesenheit darin (2014) und Heimat als Versuchung. Das nackte Leben (2018) erfolgten, und die sich angesichts der zwischenzeitlich in rascher Folge erschienenen Büchern: Das Meer im Rausch. Gedichte und Bilder (2019), In der Sprache brennt noch Licht. Gedichte (2021), Der Tod ist noch am Leben. Gedichte (2022) erneut bestätigten, behalten auch beim vorliegenden Gedichtband restlos ihre Gültigkeit, wobei noch etwas Be­merkenswertes hinzukommt. Je neuer die Gedichte sind, umso gewagter, unerwarteter, mitreißender und überraschender wirken sie. Es erscheint so, als hätten „seine Instrumente“ mit der Zeit umso selbstverständlicher und virtuoser, das Ungewöhnlichste und Frappante zu spielen gelernt. Nun soll das hier zunächst etwas apodiktisch Festgestellte natürlich auch nachvoll­ziehbar belegt werden.

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Dem Gedicht zum Auftakt des Bandes An der Schwelle des Schlafes, fol­gen fünf etwas unterschiedlich gewichtete und thematisch akzentuierte Ge­dichtzyklen, auf die einzeln einzugehen sein wird. Das genannte Eingangs­gedicht beginnt mit den Versen „Verwickelt in Saiten und Akkorde hänge ich / Auf dem Dachboden / In der Gitarre. Hell brennt die Brust“. Dem schließt sich das Überraschende verwirrend und beängstigend an „Plötzlich / Zerspringt die Glühlampe“, und dies berührt nicht nur den Atem und Herzschlag, sondern erzeugt unüberhörbar „im Ohr Geräusche, Flugzeu­ge.“ Ebenso drängt sich der dissonante Widerspruch auf „An der „Schwelle / des Schlafes Explosionen, Wortgefechte, / Sirenengeheul“; aber zugleich kommt oder geht – dies bleibt unbestimmt – „In der Tür / Der Schatten der Geliebten.“ Sodann steigern sich an der Schwelle des Schlafes nochmals die Gegensätze zwischen dem erschreckenden Gefühl „Es ist Krieg“ und dem erlösenden Zustand „Der Körper schwebt / Über der auftauchenden Landschaft“. Dieser Wechsel des Auftauchens und Verschwindens der selbst ständig andersartig wirkenden Landschaft durchzieht und bestimmt gleichsam den Grundton des gesamten Gedichtbandes. Landschaften und ihre feinsinnig symbolischen Elemente sind es, die – wie schon immer in der Poesie – in vielfältiger und mitunter eigentümlicher und ganz neuen Weise „bildhaft“ zu uns sprechen.
 
Der erste Zyklus „Vertieft in ein leises Gespräch“ umfasst, soweit datiert, fast ausnahmslos neuere Gedichte zu Reise- und Wanderungs-, aber auch Natur- und Alltagsimpressionen und vertiefen die Gedankengänge in – nicht selten in einem melancholischen Ton gehaltenen – Meditationen. So nimmt uns die Beobachtung der Magnolie zunächst – im Gleichnis einer „nicht abgeholte(n) / Braut“ – in den natürlichen, doch ahnungsvollen Vor­gang des Vergehens mit „Zwei geschlagene / Wochen lang / Harrt sie aus, trotzt / Der Kälte, / Dem Frost, dann gibt sie auf. / Enttäuscht und traurig / Lässt sie Blütenblatt um Blütenblatt / Zur Erde fallen.“ Um plötzlich auf eine andere Sinn- und Zeitebene der Vergänglichkeit zu springen „Und mein Kopf voller Weiß / In Gedanken, verstopft mit Bildern /Von letzten Frühlingen.“ In einem späteren Gedicht „Zwischen Magnolienblättern“ wird das Motiv der Magnolien sodann nochmals aufgenommen und auf den nächtlichen Sternenhimmel und darüber hinaus gehend erweitert „Der Blick gleitet / Auf der Rutschbahn der Dunkelheit / Über die Ränder mei­ner Welt / Hinaus.“ Noch weiter geht es in dem Gedicht „Unterwegs ins letzte Nichts“ in dem sich die Verse finden „Wer versteht den Dialekt / der Windmühlen? Die Vergangenheit besteht // Aus Gott und Scherben?“ und das beinahe endet „Ich habe geglaubt, gelebt, geliebt. Bin unterwegs / Ins letzte Nichts,“ um letztlich doch noch einen eigenwilligen Kontrapunkt zu setzten „dort ist viel los.“

In der Hommage auf Richard Strauss „Der Anstieg“ gehen Sprache, Bilder und Musik ineinander über und werden so festgehalten „aufgelöst in der Sprache // Zerfließen, in den Bruchstaben der Musik, / Tönend entlang des Baches wandern die Wiesen / Alpenwärts, dem Gletscher zu. // Im Ohr das heilige Universum.“ Und die Schallmauer ist erneut „Das Nichts, es will nicht mehr, es will mehr // Und mehr aufgeben dem Ende zu. Von Nacht / Eingerahmt erklingt das unbehauste Ich noch im Gebirg, / Ein musisches Gemälde.“ Und danach, nach Martin Heideggers „unbehaustem“ Ich des in die „Welt geworfenen Menschen“, setzen nur noch die Musikinstrumente ein „Ohne mit den Noten zu weinen über so viel Schönheit!“

Die Heimat der Kindheit und Jugend scheint in den Gedichten „Im offenen Gelände“, in den Zeilen „Die Erde in Albrechtsflor / Unter mir gespalten,“ und „Ex Oriente Lux“ auf, in dem daran erinnert wird, dass dieses Dorf an einer einst blutigen Grenze lag „Später entdeckt er / In den Gräben Spuren jener, / Die nachts an der Grenze erschossen wurden // Für einen Fetzen Freiheit,“. Oder in dem Gedicht „Späte Heimkehr“ in dem zu lesen ist „Da kommt Vaters / Schatten über den Hof / In flimmernder / Hitze, ein Dach­ziegel / Unter dem Arm.“ Zeitlich noch weiter in die früheste Kindheit und in die östliche Ferne geht wohl die Spur der Erinnerung zu der eisigen Käl­te der sibirischen Schneestürme in der Bărăgansteppe, in der Horst Samson geboren wurde, im dem Gedicht „Vom nervös gewordenen Schnee“ zurück „Im Hinterhalt der Landschaft lauern / Schatten. Der Schnee wittert / Die Einsamkeit. Der Kopf dreht Filme: // Der Wind heult, weint, hat Angst / Vor sich selbst, vor seiner eigenen Wut / Und dem Schnee. (…) Böse fegt er über die Herdplatte / Durch den Schornstein hinaus. Er ist verrückt ge­worden, // Flüstert Vater, der hat heute Nacht die Nerven verloren, / Die Orientierung.“

Aus dem zweiten Zyklus „Als der Wind keinen Schlaf fand“ sei das Gedicht „Panta rhei“, das den von Platon überlieferten, antiken philosophischen Gedanken Heraklits der Welt im Fluss und in ewiger Bewegung aufgreift, herausgehoben und vor allem in seiner formalen Besonderheit, die sich übrigens auch in anderen Gedichten findet, genauer betrachtet. Es besteht aus acht Zweizeilern, die die Merkwürdigkeit aufweisen, dass sich der Ge­danke des vorausgehenden Zweizeilers, in der ersten Zeilen des folgenden Zweizeilers, im Sinne des inhaltlichen in diese „Hineinfließens“ oder Über­greifens fortsetzt, so dass die einzelnen Zweizeilerstrophen auf diese Weise miteinander verkettet oder ineinander fließend erscheinen. So heißt es „Der Erde entfliehen bevor sie stirbt. / Das habe ich mir vorgenommen, ich will // Mich beeilen, (…)“ oder „Zu Hause. Heraklit warnt: Keiner steigt / Zweimal in denselben Fluss – des Lebens // Auch nicht in die gleiche Ge­genwart.“ Und gegen Ende des Gedichts „Nicht immer schmerzfrei / In der Ewigkeit – dort begrüßt uns das // Heilige Nichts (…)“. Diese Übergänge von einem Zweizeiler zum anderen sind irgendwie wie kleine Kaskaden: sie setzen den Gedanken zwar inhaltlich fort, geben ihm aber doch mitunter eine neue, überraschende Wendung.

In diesem Zyklus finden sich Gedichte wie „Netzwerk der Stimmlosen“ mit ernüchternden bis verzweifelnden Gegenwartserkenntnissen „Land, es ver­kohlte in sich. Algorithmen / Zogen die Fäden, Verdächtigungen / Am En­de der Schonzeit, Ovationen / Wie dreckige Fahnen. // Im Fieber taumelte ich durch die Landschaft / Aus Sand, Verrat, gefälschten Gebeten. / In den Adern stockte der Schnee.“ Wir treffen in diesem zweiten Teil des Bandes aber auch auf freundliche, erlebnisgestützte, einfühlsame Gedichte, die Schriftstellern wie Peter Handke, oder Dichterinnen und Schriftstellerinnen wie Ilse Hehn oder Barbara Else Zeizinger zugedacht sind. Oder „Für Ed­da“, der Ehefrau Horst Samsons, die Erinnerungen an die „Bretagne“ fest­halten in den Worten, „Als der Wind keinen Schlaf fand / Und das Meer nicht zur Ruhe kam.“ Wie alsdann „Gegen Mitternacht / Schwamm ich immer noch / Mit dir zwischen den Sternen umher / Und wir sprachen leise / Über das Leben (…)“. Ob der Titel dieses Gedichts mit Absicht nicht im Inhaltsverzeichnis enthalten ist, erscheint zwar nebensächlich, bleibt aber doch ein enigmatischer Sachverhalt.

Der dritte Zyklus „Geschäfte mit der Zeit“ reflektiert die Grundkategorie der Zeit, nicht nur mit Immanuel Kant in dem Gedicht „Exil“, das die ob­jektive Zeit durch ihre subjektiven Brechungen kontrastiert, sondern auch in verschiedenen anderen Wendungen. Etwa in „Abschied und Entkommen“ werden die demütigende Behandlung im Grenzbahnhof Curtici bei der Ausreise und der erzwungene Verlust der seit Jahren vertrauten Schreibma­schine, gleichsam wie auf einer Zeitklippe, als Gelegenheit zu einem Rück­blick auf die immer gefährlicher gewordene Heimat, der man gerade noch entkommen ist, und als Ausblick auf das noch unvertraute Zukünftige ge­nutzt. In dem E.M. Cioran gewidmeten Gedicht „Ein Feuerwerk mit dem Nichts als Hintergrund“ wird die Zeit nihilistisch aus der Perspektive des „Endes“ der „Geschichte“, als Ankunft „an der Rändern“, und schließlich als Blendwerk mit dem Eckpunkt des „Nichts“ reflektiert. Ein eigenwilli­ges Überschreiten der Grenzen der Lebenszeit wagt das Gedicht „Brief an Rolf B.“, das ein heiteres, spöttisches Gespräch mit dem verstorbenen Freund Rolf Bossert im Jenseits führt, und in dem es heißt: „Da unten wirst du gerade gefeiert. // Mein Gott, nun grins nicht so listig, du bist daran / Nicht unschuldig. Und feiern, das muss auch / Mal sein, formellos. Sicher, besser wäre es wie früher, // In unseren Bukarester Nächten – mit jungen / Dichterinnen, feucht und fröhlich gezecht, längst sind wir / Alle in alle Himmelsrichtungen verstreut“. Auch das letzte Gedicht dieses Teils des Bandes „Über die Zeit“ hinterlässt bei aller scheinbaren Gewissheit eigent­lich nur Fragen „Ich bin Zeuge // Einer Welt, die mit mir untergeht / Un­tergeht. Wohin / Verschwinden wir? // Ins Nichts?“

Der vierte Gedichtzyklus „Träumerei für Cello und Klavier“ wird von einem geradezu verstörenden Gedicht „Zeitwerk“ eröffnet, das düstere, be­drückende Bilder aneinander reiht „Das Treppenleben im Kopf, graues Licht / Im Auge. (…) Im Nebel der Lofoten schreien / Die Dorsche: Es ist Krieg, schreien  sie am Spieß, / Krieg! Wind und Regen spielen und spülen / Noch am gleichen Tag die Bedenken davon, / Illusionen, Ideologien ent­grenzt / Schnüren dir am Ende der Nervenbahnen / Die Kehle zu.“ Damit wird zugleich das Thema des Krieges aufgenommen und in den Mittel­punkt dieses Teils des Bandes gerückt. Ebenfalls vom Grauen des Krieges handelt demnach das Gedicht „Szenarien für die Jagd“. Es beginnt mit dem, wovon Kriege oft ihren Ausgangspunkt nehmen, nämlich „Gewalt ge­keltert / Aus Wörtern, Sätzen, / Gelehrter / Leichen, gestohlen aus / Wörter­büchern,“ und das sodann folgerichtig in den Versen endet „Kaputte / Buchstaben, am Ende / Missbrauch / Für Mord und Totschlag und // Krieg.“ Auch in dem Gedicht „Verschlusssache“ wird das Motiv des Krie­ges „im Osten“ aufgenommen, wobei sich zwischen den aus jeweils drei Versen bestehenden Strophen, gleichsam wie ein Refrain, die einzelnen Wörter „Verbitterter“, „Verängstigt“, Verunsichert“, „Verschweigen“, „Verteidigend“, „Vernichtet“ und „Verloren“ alliterativ in ein gewisses Crescendo gesteigert finden.

In dem seinem Vater gewidmeten Gedicht „Weihnachten im Feld“ wird in­des an „Briefe von der Front, geschrieben aus // Stalingrad.“ erinnert. Auch hier – wie könnte es anders sein – zeigt sich die Trostlosigkeit des Krieges „Und der Mond über dem Schlachtfeld, / Schreibt er, findet wie wir, keinen Schlaf. / An Weihnachten erinnert hier nichts.“ Im letzten Gedicht des Zyk­lus „Durchgebrannt. In Memoriam“, kommt sodann „Schuhmann // Als Träumerei für Cello und Klavier“ vor. Doch auch hier bedeutet dies nichts anderes als „Entfesseltes Schweigen jagt durchs Hirn / Wie gehetzte Tiere. Aufruhre, Plakate // Aus Angst und Lärm.“ Und dem folgen weitere, nahe­zu unaussprechbar schreckliche Bilder des Grauens, der Vernichtung, des Massenmordes.

Der letzte, kürzere Zyklus ist mit „Über Gott, das Ende und die Gramma­tik“ überschrieben und wird durch ein langes Gedicht „Epitome – ein Bre­viarium“ eröffnet, das einen bedenkenreichen Überblick auf die Umbrüche und den Niedergang des zurückliegen Jahrhunderts vermittelt. Von tiefem Pessimismus ist auch der Grundton des Gedichts „Die Entdeckung des Verlierens“ bestimmt, das in der letzten Strophe befindet „Passieren. Ich versuche mich aufzurichten, / Am Fenster, um meine entwurzelte Figur zu spiegeln / Auf Deiner Netzhaut, bevor Blut fließt und filmreif / In den Schnee tropft. Am Ende des Lebens, / Denke ich, dreht sich alles um das Verlieren.“ In einem ähnlichen Tonfall und in geradezu expressionistischen Bildern folgt das Gedicht „Untergangsgelüste“, in dem es heißt, „Jemand zündet Feuer an / In meinen Adern.“ Und sodann „Die Stille friert und frisst / Die vorletzten Gedanken auf, die Sterne / Liegen zerstört am Boden. So wenig Mond / Wie heute war noch nie.“ Um letztlich zu schließen „Ver­wickelt in Widersprüchen. Gescheiterte / Die misstrauisch ins Bodenlose spähen, zerfressen / Vor Angst, dass an einem ihrer ungelebten Tage / Ihnen Prometheus das Feuer wegnimmt.“ Dass letzte Gedicht beinhaltet, wie so manches andere auch, einen Gedanken an „Gott“, der ratlos, ent­täuscht und vielleicht auch verzweifelt bleibt „Er / Merkt es, Merkt es sich / Nicht. Es ist ihm / Egal. Gott ist / An niemandem interessiert.“ Oder sollte man dies als eine Replik Gottes auf die gegenwärtige Haltung der Men­schen, ihm gegenüber, lesen?

Wie bereits in seinen anderen erwähnten Bänden finden sich auch in dem vorliegenden viele Gedichte und Verse, die eigentümlich faszinierend „bildlich“ zu uns sprechen und dabei große Themen des menschlichen Le­bens berühren und dessen oft schmerzhafte Erinnerungen, eindringliche Reflexionen und bestürzende Abgründe nicht aussparen. Die Bildlichkeit der Sprache als Ausdruck „seiner eigenen dunklen Kräften“ des Geistes, die ihn stets als „große Welten“ umgeben, und die tiefgründigen Fragen und Themen der menschlichen Existenz bedingen sich gleichsam wechsel­seitig, kommen jedenfalls nicht für sich allein, ohne das Andere aus.

Wenn man auch etwas auf die Datierung der Gedichte achtet, hat man den Eindruck, dass gerade die neuesten Gedichte, in ihren Bildern und ihrer Ar­tikulation die gewagtesten, bewegendsten, scharfkantigsten, eindringlichs­ten, aber vielleicht auch die düstersten und zugleich abgeklärtesten, illu­sionslosesten sind. Möglicherweise wird der Band aber doch noch durch einen weiteren Horst Samsons, den man sich jedenfalls wünscht und der angesichts seiner anscheinend unerschöpflichen Kreativität auch gewiss kommen wird, übertroffen? Dem oder sogar weiteren kann man jetzt schon gespannt entgegensehen.

Anton Sterbling, Fürth


Horst Samson: Vom Auftauchen und Verschwinden der Landschaft. Gedichte. Ludwigsburg (Pop Verlag - Reihe Lyrik, Bd. 193. ) 2025, ISBN: 978-3-86356-419-3. 161 Seiten. 19,90 Euro.


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