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Hjörtur Marteinsson: Sieben Gedichte

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Hjörtur Marteinsson

Sieben Gedichte

(Aus: Land til að sauma rósir í / Ein Land, auf das man Rosen sticken möchte, Tunglið Forlag, Reykjavík 2022)

Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer



FEINABSTIMMUNG   

Wir reisen weiter durch unbekannte Täler.
Einige sind voll schwarzen Echos.
Andere trennt das feinabgestimmte Licht des Lands.

In einem Moment treiben wir auf dem Wasser,
im nächsten schweben wir über einem zerschellten Gletscher.

Talsenke an Talsenke
mit halbzerfallenen Gehöften,
deren Fenster der Schnee gefüllt hat
und wo die Dunkelheit in den Gängen zu
einem Entwurf wird für eine neue Welt.



HAGEL

Während ich ein Bild von dem Falken skizziere,
fühle ich, wie der Hagel mich
in die augenlose Finsternis
der tiefsten Täler wirft.

Der Hagelsturm verstärkt seine Umarmung
auf der nächsten Höhe,
bis die Schatten
aufgehört haben, Schatten zu sein.



IN DER NÄHE EINER TIEFE

Es ist Ebbe und ich stürze die Felsenwand entlang.
Die Sinne voller Wind.
Ihre Spuren im Sand
gleich einem offenen Buch, das auf mich wartet.
Welle um Welle bricht über mich herein,
greift mich und zieht mich
hinaus in die Tiefe.

In dieser Tiefe war ich ein Niemand,
bevor ich sie traf.



DIE NEBELBANK

Eine schwarze Nebelbank, wie eine Faust,
schleicht sich vom Meer heran,
legt sich mit Sturmböen übers Land,
wickelt die Landschaft in eine hauchdünne
Plastikfolie ein.

Nun ist es an der Zeit, über die Schwelle
dieser Welt zu treten,
bevor alles erstickt



ENTWURF ZU EINEM TAG AUF DIESER WELT

Keine Risse im weißen Porzellanhimmel.

Im Radio läuft die Welle für die Fischfangflotte.

Der Reeder wälzt sich im Bett.
Bald überkommt ihn die Ruhe.

Im Halbschlaf wird der Fang,
den Gott ihm gebracht hat, angelandet.

Das Meer und die Fanggründe
sind für ihn gemacht.



ÜBER DEN MOND

In Gedanken folge ich den Wolken,
lass den Aufwind mich tragen
zum Mond.

Er ähnelt jetzt einer unbekannten Erde,
eingehüllt in einen Schleier aus Kälte.

Seine Innenseite hinterlässt einen Schatten am Himmel,
nicht unähnlich dem an der Wand
der Hütte einer Reisegesellschaft am Snæfjallaströnd,
wenn das Jahrbuch über Djúpið aus dem Regal genommen wird.*

* Bei Snæfjallaströnd handelt es sich um den nordwestlichen, kaum noch bewohnten Küstenstrich am Fjord Ísafjarðardjúp (Djúpið). Djúpið bedeutet aber auch „die Tiefe“ und wurde 2012 zum Titel eines Films von Baltasar Kormákur.



GEN OSTEN   

Der Strand vor Þrengsli
ein weit ausgelegtes schwarzes Kleid,
auf das man Rosen sticken möchte.

Ein Unterland, in das jemand
Flussbetten hineingeschnitten hat.

Zwischen uns und dem Himmel im Osten steigt die Hekla empor.
Sie denkt gerade über diesen Klassiker nach:
die Welt unleserlicher zu machen.*

* Þrengsli ist eine schroffe Region aus bemoosten Lavaflächen, etwa 20 km Luftlinie von der Stadt Selfoss entfernt. Die Hekla ist ein etwa 1500 Meter hoher Vulkan im Süden Islands.


Hjörtur Marteinsson wurde 1957 in Reykjavík / Island geboren. Er veröffentlichte u.a. die preisgekrönten Bücher AM OO und Alzheimer-Variationen. 2004 wurde er mit dem Jón-úr-Vör Poesiestab ausgezeichnet, benannt nach dem gleichnamigen isländischen Bibliothekar und Dichter (1917 – 2000). Hjörtur Marteinsson ist auch als Bildender Künstler tätig und hat mehrere Einzelausstellungen veranstaltet. Ein Land, auf das man Rosen sticken möchte ist sein sechstes Buch.
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