Herwarth Walden: Das Begriffliche in der Dichtung
Moderne

Herwarth Walden
Das
Begriffliche in der Dichtung
Das Material
der Dichtung ist das Wort. Die Form der Dichtung ist der Rhythmus.
In keiner
Kunst sind die Elemente so wenig erkannt worden. Der Schriftsteller stellt die
Schrift, statt das Wort zu setzen. Schrift ist die Zusammenstellung der Wörter
zu Begriffen. Mit diesen Begriffen arbeiten Schriftsteller und Dichter. Der
Begriff aber ist etwas Gewonnenes. Die Kunst jedoch muß sich jedes Wort neu
gewinnen. Man kann kein Gebäude aus Mauern aufrichten. Stein muß zu Stein
gefügt werden. Wort muß zu Wort gefügt werden, wenn ein Wortgebäude entstehen
soll, das man Dichtung nennt. Die Sichtbarkeit jeder Kunst ist die Form. Form
ist die äußere Gestaltung der Gesichte als Ausdruck ihres inneren Lebens.
Jedes Gesicht hat seine eigene Form. Nicht zwei Gesichter sind gleich, um so
weniger zwei Gesichte. Ein Kunstwerk gestalten heißt ein Gesicht sichtbar
machen. Nicht aber, sich über das Gesicht zu verständigen. Kein Mensch wirkt
auf den andern gleich. Wie darf man diese Gleichheit von dem Uebermenschlichen,
von dem Unmenschlichen fordern. Nichts darf vom Kunstwerk gefordert werden,
aber das Kunstwerk selbst fordert. Jedes Kunstwerk fordert seinen Ausdruck.
Der äußere Ausdruck ist die innere Geschlossenheit. Die innere Geschlossenheit
ist die Schönheit des Kunstwerks. Die innere Geschlossenheit wird durch die
logischen Beziehungen der Wortkörper und der Wortlinien zueinander
geschaffen. Sie sind in den bildenden Künsten räumlich sichtbar, in der Musik
und der Dichtkunst zeitlich hörbar. Man nennt sie Rhythmus. Jede Bewegung
entsteht durch Bewegen, nicht durch Bewegtsein. Die Dichter sind gewöhnlich
bewegt über sich oder über andere oder über anderes, aber sie bewegen nicht.
Sie sind gerührt aber sie rühren nicht. Sie fühlen Gedachtes, statt Fühlendes
zu denken. Sie nehmen Formen statt Formen zu geben. Der Vergleich wird
hingestellt statt daß ein Gleichnis steht. Diese Dichter betrachten statt zu
schauen. Sie berichten Uebersinnliches unsinnlich, statt Uebersinnliches den
Sinnen sichtbar zu machen. Aussagen sind unkünstlerisch, weil sie nicht zum
Glauben zwingen können. Aussprachen sind unkünstlerisch, weil sie nicht einmal
etwas aussagen. Das künstlerische Verstehen ist keine Verständigung. Das
künstlerische Verstehen ist das Fühlen. Nur das Fühlen ist Begreifen. Wir geben
uns die Hand und wir fühlen, wir wissen das Fühlen, wir geben uns den Mund und
wir fühlen, wir wissen das Fühlen. Wir brauchen nichts zu sagen. Das ist das
Wissen um die Kunst. Das ist das Wissen der Kunst. Die Kunst begreift das
Unbegreifliche, nicht aber das Begriffliche.
Kind! Es wäre Dein Verderben,
Und ich geb' mir selber Mühe,
Daß Dein liebes Herz in Liebe
Nimmermehr für mich erglühe.
Höhne meine sanfte Plage!
Einmal muß ich doch gestehen
Daß ich Dich im Traum gesehen
Und seitdem im Busen trage.
Ihr verblühet, süße Rosen,
Meine Liebe trug Euch nicht,
Blühtet ach! dem Hoffnungslosen,
Dem der Gram die Seele bricht.
Der Rhythmus
dieses Gedichtes ist durchaus einheitlich. Nur ist es kein Rhythmus. Das
Einheitliche ist das Metrum, das Maß. Der Rhythmus, die Bewegung ist gemessen,
und zwar nach der Betonung. Der Ton bestimmt, damit die Stimme betont. Die
Stimme betont:
Kind Höhne Ihr
Und Einmal Meine
Daß Daß Blühtet
Nimmermehr Und Dem
Der Ton
bestimmt und der Wille des Dichters offenbart sich. Er wird sinnfällig. Schon
in der Beschränkung zeigt sich jeder Meister. Keine wilde maßlose Rhythmik.
Alles milde maßvolle Metrik. Geschlossenheit der Form. Jede Zeile bekommt ihre
wohlgezählten vier Betonungen zugemessen. Was ist Wort. Das Wort hat sich nach
der Betonung zu richten. Dafür geben die Wörter auch einen Sinn. Der Dichter
begreift das Sinnliche unsinnlich. Und zwar mit Hilfe des Begrifflichen. Er
sagt aus, daß er sich selber Mühe gibt. Das liebe Herz darf nimmermehr in Liebe
für ihn erglühen, weil das Kind vor dem Verderben geschützt werden muß. Er
trägt es deshalb im Busen, nachdem er es im Traum gesehen hat. Er konnte es
aber nicht tragen, weshalb ihm der bekannte Gram die Seele bricht. Das Gedicht
ist ohne weiteres zu verstehen. Es ist also ein Gedicht. Denn es ist logisch.
Da der Dichter aber aussagt, habe ich das Recht, seine Aussagen zu prüfen. Ich
möchte es noch dahingestellt sein lassen, ob es für das Kind ein Verderben
wäre. Bei der betonten Sorge wäre es doch möglich, daß er es doch etwa heiraten
könnte, wenn er sich Mühe gäbe und daß auf diese einfache Weise die ganze Angelegenheit
tonlos geregelt werden könnte. Oder aber ich glaube das Geständnis nicht, daß
er das Kind im Traum gesehen hat. Wenn Dichten Träumen heißt, ist jeder Träumer
ein Dichter. Hingegen geht dieser Dichter schon in das Unnatürliche hinüber,
wenn er das Kind im Busen trägt. Das Unnatürliche scheint also doch schon auf
die Meister einen gewissen Reiz ausgeübt zu haben. Es ist ebenso natürlich, daß
Rosen verblühen, wenn man sie in die Liebe pflanzt. Bei dieser Unnatur ist es
dem Gram nicht zu verdenken, daß er die Seele bricht. Die Wortverfechter
meisterlicher Kunst werden um sich schlagen. Was ist das Wort. Man darf das
Wort eben nicht wörtlich nehmen. Ist es nicht ein tieferer Sinn, daß der Gram
die Seele bricht oder daß das Herz nimmermehr erglüht. Was kann man sich nicht
alles unter einer brechenden Seele vorstellen oder unter einem glühenden
Herzen, einem nimmermehr glühenden Herzen. Die Seele ist schon an sich
poetisch und das Brechen auch, wenn die Seele der leidtragende Teil ist. Der
Beinbruch ist unpoetisch, weil man ihn sehen kann, der Seelenbruch poetisch,
weil man sich ihn denken muß. Was man sich denken kann ist geistig, also
künstlerisch. Wer kann sich einen Beinbruch denken.
Man sieht,
die Meister kommen ganz gut ohne Wort und Rhythmus aus. Und wer dieses Gedicht
etwa noch nicht für ein Gedicht gehalten hat, wird sofort seine Haltung wiedergewinnen,
wenn ich die Namen der drei Meister nenne, die ich gebeten habe, sich zu einem
Gedicht zu vereinigen. Wir danken die erste Strophe Heinrich Heine, die zweite
Stefan George und die dritte keinem Geringeren als Johann Wolfgang von Goethe.
Sie alle zeigen sich genau auf der gleichen Höhe der Meisterschaft. Sie sind
zum Verwechseln ähnlich. Meisterschaftsringer der deutschen Lyrik, die man
durch Nummern unterscheiden müßte, wenn man sie durchaus unterscheiden will.
Mit andern Worten: Nur das Wort, jedes Wort ist Material der Dichtung nicht der
Begriff, der das Wort verstellt. Oder: Der Beinbruch ist sichtbar der
Seelenbruch nicht. Und auf die Sichtbarkeit kommt es an. Es entsteht kein Bild,
wenn Sichtbares mit Unsichtbarem verbunden wird. Das Leben des Sichtbaren oder
des Unsichtbaren ist der Rhythmus. Nur Bewegung ist Leben. Die sachliche
Aussage sogar wird künstlerisch, sogar ohne die sogenannten dichterischen
Hilfsmittel, wenn das einzelne Wort lebt und die Wörter in ihren Beziehungen
zueinander durch ihren Rhythmus leben.
Es war eine schöne Jüdin,
Ein wunderschönes Weib.
Sie hat eine schöne Tochter
Ihr Haar war schön geflochten.
Zum Tanz war sie bereit.
Ach Mutter liebste Mutter
Mir tut das Herz so weh
ach laß mich eine Weile
spazieren auf grüner Heide
bis daß mir besser wird.
Die Mutter wandt den Rücken
Die Tochter sprang in die Gaß'
Wo alle Schreiber saßen
Ach Schreiber lieber Schreiber
Was tut mir mein Herz so weh
Wenn Du Dich läßest taufen
Luisa sollst Du heißen
Mein Weibchen sollst Du sein
Eh ich mich lasse taufen
Lieber will ich mich versaufen
ins tiefe, tiefe Meer
Gut Nacht mein Vater und Mutter
wie auch mein stolzer Bruder
Ihr seht mich nimmermehr.
Die Sonne ist untergegangen
im tiefen tiefen Meer
Das ist von
Goethe nicht, von Schiller kein Gedicht. Es ist ein sogenanntes Volkslied.
Veröffentlicht in der Sammlung Des Knaben Wunderhorn. Aber der Dichter ist
mehr Künstler als <diese> Meister, die kaum Dichter, viel weniger also
noch Künstler, nämlich Gestalter sind. In diesem Gedicht ist nichts bemessen,
aber alles bewegt. Nichts gedacht, aber alles gefühlt. Es ist ganz schlicht
natürlich. Das Herz bricht nicht, es tut nur so weh. Es ist nicht das Höchste
der Kunst, es steht aber auf der Höhe der Kunst. Denn das Gesicht ist sichtbar.
Es ist nicht das Höchste der Kunst, weil es noch einen Gedanken voraussetzt. Kunst
aber ist ohne jede Voraussetzung. Kunst ist gegenwärtig, nichts darf voraus
sein, wenn Kunst gesetzt wird. Nur was das Auge sieht, das Aeußere oder das
Innere ist sichtbar. Die Jüdin ist nicht zu sehen.
Die
gegenständliche Dichtung ist also dann Kunstwerk, wenn das zu Fühlende durch
sachliche und logische Gegenständlichkeit sichtbar und begreifbar gemacht
wird. Wird aber das Mittel, das Gegenständliche, mit dem Zweck, dem Gefühl, für
das es Gleichnis ist, in derselben Dichtung angewandt, so wird der Zweck
unvermittelt neben das Mittel gestellt, das Mittel selbst also zwecklos. Es
ist überflüssig weil es den Fluß, den Rhythmus, hemmt.
Die gegenständliche Dichtung ist also mittelbar,
Die ungegenständliche Dichtung ist unmittelbar.
Jede Dichtung
ist aber alogisch. Die Dichtung als Kunstwerk hat nichts mit der Logik zu tun,
die aus der Erfahrung hergeleitet wird, aus der Erfahrung der Sinne oder aus
der Erfahrung der Tatsachen. Jede Erfahrung entsteht aus der Wiederholung des
Erfahrenen. Aus der Kunst holen wir, was unerfahren ist. Deshalb hat der
Unerfahrene nicht die Hemmungen bei der Kunst, weil er noch erfahren kann. Nur
wer die Erfahrung aufgibt, kann Kunst aufnehmen, denn jede Erfahrung ist nur
ein Mittel, nicht ein Zweck.
Das Gegenständliche
in der Dichtung ist stets Gleichnis und darf nie Vergleich sein. Der Vergleich
hängt von dem Vergleichenden ab, er ist also persönlich gebunden. Das Gleichnis
aber ist unpersönlich und ungebunden. Sichtbar wird es nur durch seine innere
Bindung. Die Bindung der Kunst ist aber ihre Bewegung. Der Rhythmus.
Jede
Verständigung ist willkürlich. Jede Dichtung unwillkürlich. Oder ist es nicht
willkürlich, daß der B sagen muß, wer A sagt. Oder ist es nicht willkürlich,
daß ein Hauptwort ein Zeitwort bedingt. Ist das Haupt nicht ohne Zeit. Oder ist
die Zeit nicht nur im Haupt. Oder was zwingt das Haupt, eine Eigenschaft zu
haben. Oder was hat das Wort mit dem Geschlecht zu tun. Oder warum sieht man
für ein Neutrum an, was man nicht deklinieren kann. Oder ist es nicht Willkür,
wenn man die Sonne in Deutschland für eine Dame und in Frankreich für einen
Herrn hält. Oder warum sind Zeitwörter manchmal regelmäßig und manchmal
unregelmäßig. Oder warum ist keine Regel ohne Ausnahme, aber jede Ausnahme ohne
Regel. Diese Grammatik ist so regellos, weil ihre Regeln Willkür sind. Gewollt
aus der Erfahrung. Wiederholungen. Kunst kann die Grammatik verwenden, wenn
ihre Regeln durch die Kunst ihre Bestätigung finden. Kunst ist aber keine
Grammatik. Und noch weniger ist Grammatik Kunst. Warum soll nur der Satz zu
begreifen sein und nicht das Wort. Da doch der Satz erst das Begriffliche des
Wortes ist. Nur die Wörter greifen den Satz zusammen.
Wenn das
einzelne Wort so steht, daß es unmittelbar zu fassen ist, so braucht man eben
nicht viele Worte zu machen. Man darf es dann sogar nicht, weil man sonst das
Wort umstellt, unsichtbar macht. Die Kunst aber ist es, das sichtbare Wort
sichtbar oder wieder sichtbar zu machen. Welchem Künstler ist es je
eingefallen, ein Gebäude aus edlen Steinen zu bemalen. Man bemalt, um edle
Steine vorzutäuschen. Und doch ist jeder Stein edel, wenn er Stein ist. Und
jedes Wort ist edel, wenn es Wort ist. Und diese Dichter bemalen diese edlen
Wörter, oder sie stimmen sie nach ihren Verstimmungen ab. Dem einen paßt die
Liebe, dem andern paßt sie nicht, dem einen paßt die Sonne, dem andern paßt der
Regen. Und alle diese endlichen Verstimmungen werden als unendliche Stimmungen
vorgesagt und eingeredet. Was geht das Wort die Stimmung an. Was geht das Wort
die Persönlichkeit an. Die Persönlichkeit bedient sich des Wortes. Das Wort
wehrt sich, indem es der Persönlichkeit nicht dient. Das Wort herrscht das Wort
beherrscht die Dichter. Und weil die Dichter herrschen wollen, machen sie
gleich einen Satz über das Wort hinweg. Aber das Wort herrscht. Das Wort
zerreißt den Satz, und die Dichtung ist Stückwerk. Nur Wörter binden. Sätze
sind stets aufgelesen.
Die Sätze
werden in Absätze aufgeteilt und der Rhythmus ist fertig. Nur ist es kein
Rhythmus; denn diese Verse sind willkürlich. Der Dichter mißt sie und bricht
sie ab wie es ihm paßt. Er macht die Zeilen gleich. Und der Versfuß hinkt. Man
kann eben nichts Wesentliches gestalten, wenn man nur mit Füßen arbeitet und
den Versen wohl gezählt auf die Füße tritt. Man kann den Fuß nicht stellen,
wenn man sich bewegt. Kunst aber ist Bewegung. Rhythmus.
Jedes Wort
hat seine Bewegung in sich. Es wird durch die Bewegung sichtbar. Die einzelnen
Wörter werden nur durch ihre Bewegung zueinander, aufeinander, nacheinander
gebunden. Nichts steht, was sich nicht bewegt. Kreist doch selbst die Erde.
Kreist doch die Welt. Das ist die innere Sichtbarkeit. Die ungegenständliche
Dichtung.
Auch die
innere Sichtbarkeit ist sinnlich sichtbar. Auch sie hat eine Oberfläche, die man
fassen, also fühlen kann. Aber sie bewegt sich unter dem Stehenden. Sie steht,
wenn man nicht verstehen will. Sie greift, wenn man sich nicht vergreift. Denn
nicht der die das Mensch greift die Kunst. Kunst greift über Menschheit hinaus,
ballt Menschheit zusammen.
Kunst kreist
die Menschheit in ihrem All.
Aus dem
Buch: Expressionismus / Die Kunstwende / Herausgegeben von Herwarth Walden /
Erscheinen am 1. September 1918
Erstdruck:
Der Sturm, Heft 5, August 1918