Henry Beissel: Fugitive Horizons / Flüchtige Horizonte
Norbert H. Platz
Zu Henry Beissel: Fugitive Horizons / Flüchtige Horizonte.
Bei Henry Beissel haben wir es mit einem Meister innovativer poetischer Möglichkeiten zu tun. Er schreibt Gedankenlyrik, die durchaus auch in der Tradition der metaphysical poets des 17. Jahrhunderts gesehen werden kann. In den meisten Gedichten lehnt er sich an das vierzehnzeilige Format des traditionellen Sonetts an. Die Zeilen weisen schöne Klangmuster und rhythmische Formen auf, sind jedoch ohne Reim. Im Unterschied zum konventionellen Sonett stehen allerdings nicht die Themen von Liebe und Identitätsfindung im Mittelpunkt, sondern bisher kaum befragte Ansprüche an unsere Wahrnehmungsfähigkeit und Verstehensgewissheit. Wie beim konventionellen Sonett enthalten die Schlusszeilen eine Klimax, die eine mit kluger Zuspitzung gewonnene Einsicht verdeutlichen und den Leser oft erstaunen lassen. Beissel überrascht den Leser treffend mit ironischen Zuspitzungen.
Der Autor erprobt unerwartete Variationen unserer Wahrnehmungsfähigkeit. Viele Leser werden es als eine Herausforderung betrachten, wenn durchweg ihre natur-wissenschaftliche Verstehensbereitschaft auf den Prüfstand gestellt wird. Sofern man eine vorrangig geisteswissen-schaftliche Erziehung erfahren hat, sind einem bedauer-licherweise naturwissenschaftliche Terminologien und Hypothesen oft fremd. Indes ist es charakteristisch für Beissel, sich einer an den modernen Naturwissenschaften orientierten Intertextualität zu bedienen. In der Literatur ist das Bestehen von Intertextualität schon seit langem bekannt. Meistens stammten die evozierten Prätexte aus literarischen oder mythologischen Traditionen. In Celebrating the Flaw / Lob sei dem Defekt (S. 36-37) wird z.B. eine provozierende Parodie auf den Anfang des Johannesevangeliums (In the beginning was the Word, and the Word was with God, and the Word was God) vorgelegt:
In the beginning there was nothing and nothing exploded
To create an inferno finely balanced
To annihilate itself faster than the speed of light
Am Anfang war das Nichts und das Nichts explodierte,
um ein Inferno zu schaffen, das darauf eingespielt war,
sich in mehr als Lichtgeschwindigkeit selbst zu vernichten
Für den Menschen sei die defekte Welt, so die kecke Einladung an einen fiktiven Gast, ein Anlass zum Feiern:
I hold you to your promise to dine with me tonight
to celebrate the flaw which we owe this flawed world.
Komm, löse dein Versprechen ein, heute mit mir zu speisen, um
den Defekt zu feiern, dem wir diese defekte Welt verdanken.
Bei Beissel liefern Denkmodelle aus der Astrophysik, Mathematik und Medizin wiederholt wirkungsstarke Bedeutungssegmente, anhand derer kühne poetische Erkundungen vorgenommen werden. So wird man als Leser ständig dazu eingeladen, seine eigenen Denkhorizonte neu zu tarieren. Liest man in der herkömmlichen Lyrik ein Gedicht über den Menschen, begegnen einem viele Worte, welche die ihn auszeichnende personale Würde betonen. Jedoch in dem Gedicht We’re Secrets / Das Geheimnis sind wir (S. 14-15) werden unsere Artgenossen lediglich als schwer berechenbare Konglomerate von Mikroben erfasst:
We’re secrets to ourselves and the trillions
of microbes that walk us daily through all
the many formulas of living without giving
anything away.
Uns selber sind wir ein Geheimnis und ebenso den Billionen
Mikroben, die uns tagtäglich durch die vielen Formen des Lebens
führen, ohne uns etwas davon merken zu lassen.
Wir stehen hier nicht am Ende einer zielstrebigen Evolution, sondern sind wahrscheinlich nur Zufallsprodukte. Dies wahrzunehmen ist unser desillusionierendes medizinisch verbürgtes Geheimnis, welches den Verlauf unseres Lebens bestimmt. Bei diesen Abläufen sind Fehler unvermeidlich:
We’re messages from one microbe to another
multiplied a hundred trillion times, written
in a language of fragile fictions that define
the syntax in our bodies and our minds
in every cell. Sometimes they make mistakes
Wir sind nur Mitteilungen von Mikrobe zu Mikrobe,
hundert Milliarden Mal vervielfacht, geschrieben
in einer Sprache aus fragilen Fiktionen, die
die Syntax jeder Zelle unserer Körper und Gehirne
definieren. Mitunter machen sie Fehler.
Das lässt uns fragen: Worin besteht unsere Freiheit und unser Können? Gibt es so etwas wie Seinsgewissheit? Ein weiteres Gedicht suggeriert, dass wir lediglich A Passing Frenzy / Eine flüchtige Laune (S. 82-83) im Weltgeschehen seien:
The universe is a passing fancy, whether you and I
sit by its banks and muddy the waters with our desires
or we climb the mind’s peaks and stare at our horizons
of ignorance, there’s no telling reality from dream.
Das Universum ist eine flüchtige Laune; ob du oder ich an seinem
Rand sitzen und die Wasser mit unseren Sehnsüchten trüben oder ob wir
die Gipfel des Wissens erklimmen und auf die Horizonte unserer Unwissenheit
starren, man kann Realität und Traum sowieso nicht unterscheiden.
Die im Folgenden evozierten kosmischen Zusammenhänge lassen wenig Raum mehr für ein einlullendes Verständnis unserer Daseinsbedingungen:
Every second the sun burns a hundred million tons
of hydrogen into helium; another couple of months
into the cosmic calendar the entire solar system will be
a thin veil of fire spreading, scattering at 50km/sec
till all is lost in the vast, icy darkness of interstellar space.
Jede Sekunde verbrennt die Sonne einhundert Millionen Tonnen
Wasserstoff zu Helium; ein paar Monate später im kosmischen Kalender,
wird das gesamte Sonnensystem ein dünner Schleier aus Feuer sein, der sich
ausdehnt und sich dann zerstreut mit einer Geschwindigkeit von 50 km/sec,
bis sich alles in der eisigen Kälte des interstellaren Raums verliert.
Angesichts dieser Darstellung menschlichen Lebens aus Weltall-Perspektive ist es umso tröstlicher, dass das Universum auch Bedingungen für das Schreiben von Gedichten geschaffen haben soll, wie z.B. in Others Are Writing this Poem / Dieses Gedicht schreiben andere (S.34-35) suggeriert wird:
From the leftovers of starbirths planets assemble
destinies enough to defy your comprehension:
one of them someone else is writing this poem.
Aus den Überbleibseln der Sterngeburten fügen Planeten genügend
Geschicke, um deiner Vorstellungskraft zu trotzen:
In einer von ihnen ist ein anderer dabei, dieses Gedicht zu schreiben.
In dem Sonett May I Have this Tango? / Darf ich um diesen Tango bitten? (S.30-31) genehmigt sich die Sprecherfigur die Freiheit, mit dem Universum zu tanzen. Hier ist die persona nicht mehr machtlos, sondern wird zum Akteur in kosmischer Dimension:
May I have this tango, Miss Universe, so that
I can dance you into the seventh heaven of love?
There’s no one else out there in interstellar space
who can make you such an offer and follow through.
Darf ich um diesen Tango bitten, Miss Universum, damit ich
mit Ihnen in den siebenten Himmel der Liebe tanzen kann?
Kein anderer sonst da draußen im interstellaren Raum
kann Ihnen dies Angebot machen und dazu stehen.
Der Autor verweist nicht nur auf den Tanz, sondern auch auf ein geheimnisvolles kosmisches Orchester und ein ebensolches Auditorium in Cosmic Auditorium / Kosmisches Auditorium (S. 16-17):
Make no mistake: the mind dances to the tune
of invisible orchestras, each trillions of strings,
playing up worlds of facts, fictions, and fancies
in the auditorium of every raindrop, every galaxy,
every moment of silence the mind dances
circles round itself to define the night’s horizons.
Täusche ich dich nicht: unsere Intelligenz tanzt zur Melodie
unsichtbar Orchester; jeder der Milliarden Saitenklänge
beschwört Welten von Fakten, Fiktionen und Einbildungen
heraus im Auditorium jedes Regentropfens, jeder Galaxie;
in jedem Augenblick der Stille tanzt das Denkvermögen
in Kreisen um sich selbst, den Horizont der Nacht auszuloten.
Eine Reihe von Texten enthalten auch sinnfällige Eindrucksbilder wie z.B. This Dawn Happens / Dieser Tagesanbruch ereignet sich (S. 46-47):
The way the sun pops in slow motion
from the hidden furnace of night dripping molten gold,
passes through thin layers of clouds and re-emerges
radiant as Apollo, is unique.
[ … ]
This dawn’s complexity remains uniquely and forever mine.
Wie die Sonne in Zeitlupe heraufplatzt aus dem
Verborgenen Hochofen der Nacht, triefend von Goldschmelz
Apollo gleich, ist einzigartig. Die mehrfachen Lichtbrechungen mit
ihren gebogenen Winkeln und Ecken
[...]
Die Fülle dieses Tagesanbruchs bleibt einzig und für immer mein.
Man darf in dieser Gedichtsammlung eine abwechslungsreiche imaginative Bildungsreise durch naturwissenschaftliche und interstellare Vorstellungsbereiche erfahren. In der literarischen Tradition gibt es zwar unzählige tröstliche Gedichte über das Erlebnis der Nacht. Aber in einem Gedicht wie On Night’s Edge / Am Rande der Nacht (S. 20-21) z.B. liest man ratlos etwas Aufreizendes:
Countless universes have come to nothing. A thousand
septillionths of a second into what might have become
another time a zillion particles collided with a zillion
anti-particles and vanished before they had ever been.
Ungezählte Universen endeten im Nichts. Eine Tausendstel Septillione
einer Sekunde lang, aus der vielleicht eine neue Zeit geworden wäre,
stießen eine Zillion Teilchen mit einer Zillion Anti-Teilchen
zusammen und verschwanden, bevor sie je da gewesen waren.
Hier begegnen uns die in der normalen Erfahrungswelt nicht erlebbare Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, sowie das Nebeneinander von Bestehendem und Gewesenem, wie es nur in physikalischen Modellierungen angedacht werden kann. „Eine Tausendstel Septillione einer Sekunde“ ist eine Messeinheit, die uns an eine rätselhafte Grenze unseres Verstehens führt.
Beissel hat sich auch von den Theorien der Quantenmechanik anregen lassen, und diese in manche seiner Gedichte einbezogen. Zur erfahrbaren Welt wird eine virtuelle Parallelwelt angedacht. In Life in Virtual Space / Leben im virtuellen Raum (S.138-139) z.B. liest man Dystopisches:
When inhabitants of the antiworld saw what was happening
They prepared to migrate to the planet their counterparts had abandoned
For life in virtual space.
[…]
The toxic air and water proved to be manna for antihomo antisapiens
and soon they occupied every niche in the new bleak and wasted world.
Als die Bewohner der Antiwelt sahen, was geschah, trafen sie Vorbereitungen,
zu den Planeten auszuwandern, die ihre Duplikate verlassen hatten, um im virtuellen
Raum weiterzuleben.
[...]
Vergiftete Luft und vergiftetes Wasser erwiesen sich als Manna für antihomo antisapiens
und bald bevölkerten sie jede Nische in der öden und zerstörten Welt.
Jedoch wird am Ende des Gedichtbandes in Renaissance / Renaissance (S.146-147) die Wiedergeburt aus einer zerstörten Umwelt zum Klang des Ostwindes und einer japanischen Flöte in Aussicht gestellt:
When finally the lights went out in their cities, the stars
returned to sing in the deserted streets. An east wind blew up
and accompanied them hoarsely like a shakuhachi flute to restore
the long silence in which the stones’ voices can be heard.
Als die Lichter in ihren Städten endgültig erloschen, kehrten die Sterne zurück,
um in den verlassenen Straßen zu singen. Ein Ostwind kam auf und blies heiser
dazu eine Begleitung, vergleichbar einer Shakuhachi-Flöte, damit die seit langem
vermisste Stille zurückkehrte, in der man die Stimmen der Steine hören kann.
Nach der Lektüre des gesamten Bandes ist man getröstet, wenn Beissel die Frage Why Should There Be More / Warum sollte da mehr sein (S.152-153) stellt und unseren sinnlichen Wahrnehmungen eine beglückende Wirksamkeit beimisst:
[ our senses’] is the power
to turn drab energies into the glory of countless worlds
the mind translates into ecstasies and agonies.
[…]
There may be path of truth out of the labyrinth of numbers
and calculation, but I’d as soon listen to the wind humming
dawn’s tune in a pine or the rain’s dance and patter on the roof.
[unsere Sinne] haben die Macht,
leblose Energie in eine Herrlichkeit unzähliger Welten zu
verwandeln, die das Bewusstsein als Ekstasen und Agonien erlebt
[…]
Es mag ja einen Pfad der Wahrheit aus dem Labyrinth der Zahlen und Kalkulationen
geben, aber ich lausche lieber dem Wind, der die Melodie der Morgenröte
in einer Kiefer summt oder dem Regen, wie er auf dem Dach tanzt und prasselt.
Wie der Titel Fugitive Horizons / Flüchtige Horizonte suggeriert, stehen die flüchtigen Grenzen unseres Wissens zur Diskussion. Der Autor eröffnet durch wechselnde Bildeinstellungen immer wieder eine neue Dimension der Welterfahrung. Man staunt durchweg über den Perspektivenreichtum und die aus ihm hervorgehenden Spannungen. Beim Erspähen eines jeweils neuen Horizonts, wird man an eine Grenze geführt, die man weder ein- noch überholen kann. Ein gesichertes Weltwissen ist überholt, denn wir haben nur flüchtige und vergängliche Sichtweisen. Es ist ein Privileg des aufmerksamen Lesers, die hier zugrundeliegende erkenntnistheoretische Nüchternheit zu bewundern und als zustimmungsfähig zu erfahren. Die poetische Anreicherung mit naturwissenschaftlichen Paratexten ist ein Gütesiegel dieser zweisprachigen Ausgabe von Henry Beissels Gedichten. Wenn man die englische und deutsche Version jeweils laut liest, wird man für ästhetisch gefällige Klänge und Rhythmen sensibilisiert.
Dieser lesenswerte Gedichtband besteht aus 72 Gedichten des kanadischen Autors Henry Beissel, der in Deutschland im Jahre 1929 geboren wurde und seit 1951 in Kanada lebt. In Kanada genießt er seit vielen Jahren hohes Ansehen als Lyriker und Dramatiker. Dort und in mehreren anderen Ländern hat man ihm ansehnliche Preise verliehen. Seine dichterische Leistung verdient es, auch in Deutschland wahrgenommen zu werden. Heide Fruth-Sachs gebührt hohe Anerkennung dafür, dass sie diesen Autor entdeckt und seinen Band Fugitive Horizons / Flüchtige Horizonte in Zusammenarbeit mit dem Autor ins Deutsche übersetzt hat. Die zweisprachige Ausgabe ermöglicht, die Texte in der Gegenüberstellung von Original und Übersetzung zu lesen. Der Band wurde von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in die Lyrikempfehlungen 2016 aufgenommen unter der Rubrik Internationale Lyrik in Übersetzung.
Henry Beissel: Fugitive Horizons / Flüchtige Horizonte. Englisch / deutsch. Übersetzung ins Deutsche von Heide Fruth-Sachs. Marburg (Verlag LiteraturWissenschaft.de) 2015. 156 Seiten. 14,90 Euro.