Hendrik Jackson: was hat er sich nur dabei gedacht?
Hendrik Jackson
was hat er sich nur dabei gedacht?
einige Gedanken anlässlich des Bands
»zungenenglisch. visionen, varianten« von F J Czernin
oft fragt sich der Leser während einer Lektüre, was sich der Autor wohl dabei gedacht habe. damit deutet man auf etwas, das hinter den Worten zu liegen scheint, eine Stimmung, ein Netz von Assoziationen, an das man mittels der vorgefundenen Wörter nicht reicht.
meist ist es also eine Mangelerscheinung (für das nichtzwangsläufig das Buch Ursache sein muss), wenn der Leser so denkt, denn es heißt, dass der Text zu dem Leser nicht spricht, bzw. sich nicht ausspricht, sich nicht von selbst versteht.
Gedichte, bei denen sich verschärft die Frage stellt, was der Autor sich wohl dabei gedacht habe, sind die Gedichte von Franz Josef Czernin. wir kennen aus den Akademien die Antwort auf die Frage, was sich einer dabei gedacht habe: es sei nicht relevant. relevant sei allein, was im Text stehe. wir kennen auch Czernins äußerst präzise und profunde Literaturaufsätze. in ihnen gibt der Autor sehr klar zu verstehen, was er sich bei Texten und Problemen der Sprache, mithin bei Aussagen denkt. in seinen Gedichten wiederum gibt es zwar sehr viel Bedeutungen, aber wenig unmittelbar zu verstehen. so auch in seinem neuen Band »zugenenglisch. visionen, varianten«, der signifikanterweise sowohl Gedichte, als auch einen philosophischen essay »zur poetik der vision« enthält.
scheint es sich angesichts des theoretischen Zugs Czernins tatsächlich von selbst zu verstehen, dass es nicht relevant sei, was der Autor sich dabei gedacht habe, sondern nur, was die Texte, in der Sprache Czernins und seiner Vorgänger, zu verstehen geben? aber warum werden wir nur bei der Lektüre der Gedichte Czernins immer wieder auf das zurückgestoßen, was er sich gedacht habe?
ich möchte vermuten, dass wir gewohnheitsmäßig (und darin mag die Krux liegen) glauben, verstehen zu müssen, was ein Autor, dem es so ums Verstehen geht, sich gedacht habe. wir fürchten dann, dass sich uns in seiner Weise der Mitteilung etwas vorenthält, solange wir die Texte nicht richtig entschlüsseln.
man kann dabei Czernin im Grunde - nicht erst in diesem Buch - beliebig zitieren, alles ist gleich bedeutungsvoll und bedeutungslos: »blitzzackt anfänglich, da// allseits weisspur, schleudertraum.«
dies kann zunächst „alles Mögliche“ bedeuten, weil alle möglichen Bedeutungsebenen angespielt (aber nicht eingezäunt) werden. man kann nicht nur mehrfache Bedeutungsebenen herauslesen, man kann die Wörter selbst, je nachdem wie zusammenhängend man sie liest, mehrfach lesen: „blitz akt an fäng licht all seit s weiss pur, schleudert raum“ etc. (so liest Czernin auch seine Gedichte oft mehrfach hintereinander mit verschiedenen Bedeutungsakzentuierungen.)
es bedeutet zugleich nichts (bestimmtes), da die Thematiken nicht enggeführt werden und es sich weder um Handlungsanweisungen, noch einfache Aussagesätze oder stimmungsvolle Beschreibungen handelt.
behauptet man hingegen, seine Verse seien sinnlos, revoltieren die Wörter und behaupten ihrerseits einen Zusammenhang. will man aber einem Zusammenhang folgen, zerfallen die Glieder bereits wieder in ihre Mehrfachbedeutungen und Einzelteile: disiecti membra poetae, ein modriger Pilztraum, ein Alb mit Blitzen, für den Leser zuweilen ein Schleudertrauma.
so erwecken die Gedichte durchaus den Eindruck, dass der Autor sich viel zu viel dabei gedacht habe (sodass die Gedichte unleserlich werden) und zu wenig (denn die sich auffaltenden Bedeutungen bleiben dem Leser ohne Anleitung überlassen). ob es sich bei einer Gedichtzeile nun um „Schreck-Klettern“ auf einen „Himmels-Turm“ oder eher „Schreck-Lettern“ in einem „Himmel-Sturm“ handelt, ist nicht zu entscheiden. die Möglichkeiten stehen gleichberechtigt nebeneinander.
zugleich haben die Gedichte durchaus etwas Strenges in ihrer unnachgiebigen Erforschung von Sprachbedeutungen. sie zielen in erster Linie nicht auf lebendige Anschauung eines Gedichtganzes und genau das macht Czernins Gedichte so anspruchsvoll. wir finden in den Gedichten zunächst nur die Schraubensammlung des Werkzeugmeisters mit tausenden Kästchen. und daneben eine Theorie des Schraubens. so sagt der gemeine Leser auch wohl von Czernin, dessen Gedichte seien verschraubt.
möchte man mehr im klassischen Sinn „verstehen“, dann muss man sich an Czernins Aufsätze halten. auch in diesem Band ist ja den Gedichten ein sehr erhellender Aufsatz nachgestellt. er stellt den Gedichten nach in der Weise, dass er das Funktionieren der Sprache in Gedichten aufspüren will. dies geschieht geordnet und Schritt für Schritt, gleichsam repetitiv. wenngleich es ihm gerade darum geht, wie schwierig zu benennen sei, was ein Gedicht dem Leser »zu verstehen gibt«.
und plötzlich lesen wir in seiner Theorie, wie es ihm doch ums Ganze geht, um den Menschen, um den Tod: es ist nämlich ein Wurm in der Sprache und im Dichten, der Wurm der Sterblichkeit. die Sprache selbst ist wohl zeitlos, unvermoderbar, wahrsatt. aber ihre Wahrheiten können von uns nicht geprüft werden, weil wir sterblich sind. mithin führt uns die Unsterblichkeit der Sprache wieder auf unsere Sterblichkeit. Sätze wie »alle sind sterblich« könnten erst von Unsterblichen überprüft werden. Czernin rührt hier an uralte Probleme der Sprachphilosophie und der Begründungsparadoxien.
und Czernin verläuft sich schnurstracks in die Wälder des Bedeutungsbedenkens. was kann ich sagen, was kann ich »zu verstehen aufgeben«? wie verhält sich Sprache zu Nicht-Sprachlichem? und genau dieses Forschen über das Verstehen mag ja daher kommen, dass der Dichter Czernin intuitiv, „visionär“ sozusagen, immer schon etwas versteht, das er sich selbst aber so schwer erklären kann. warum sollte dann das Gedicht für den Leser so einfach zu verstehen sein? beziehungsweise mag es doch interessanter sein, möglichst viel zu verstehen und nicht nur das Eine (oder Viele), was er sich gedacht habe.
erschließt sich von Czernins Theorie her die Bedeutungsvielfalt und Unerklärtheit seiner Gedichte? sind sie, wie er selbst zuweilen geschrieben hat, tatsächlich nur „Beispiele“, Exempel für theoretische Leidenschaften?
das entwertet die Gedichte retrospektiv etwas. ihre Vielfalt erscheint nun nur als Spiel, als seltsam selbstzufriedenes und übungsmäßiges Aushorchen von Bedeutungsspielräumen.
vielleicht hat Czernin seine Gedichte zu sehr von der Theorie her gedacht und lesen lassen, sie als „beispielhaft“ vorgeführt und beschrieben und herausgegeben. wie wäre es, wenn wir diese Verstehensseite ein wenig vernachlässigten, uns von der Theorie abwendeten, uns nicht mehr den Kopf zerbrächen, was er sich dabei gedacht habe, sondern uns unseren Teil denken, während wir den Worten einfach folgen. dann entdecken wir die Liebe, mit der hier die Glieder der Poesie immer wieder neu angeordnet werden. mit welcher so selten gewordenen Neugier und Freude an der Sprache. vor allem aber Behutsamkeit und Redlichkeit. diese Redlichkeit des Philologen hat sich bei Czernin längst zu einem Heilsversprechen ausgewachsen, das wiederum erst in der Theorie und auch nur über ein merkwürdig versachlichtes Sprechen, zum Beispiel vom »Versabstand« als »Grenze zwischen deinem Leben und deinem Tod«, greifbar wird.
vielleicht müssen wir dies ewige »zu Verstehen aufgeben« eher verstehen als ein aufgeben, zu verstehen, um wieder ganz bei den Gedichten Czernins zu sein.
gleichzeitig setzt diese Art akribischen Erkundens das real entmachtete Individuum auf schöne Art wieder in sein Recht: spricht ihm die Möglichkeit zu, wirft es in seinem An-die-Grenzen-Gehen zurück auf sich selbst, aber so, dass es zugleich frei bleibt, selbstbestimmt. je mehr die Gedichte sich in ihrem Nicht-Verständnis erschließen, wird die Poetik zu den Gedichten dabei zur Begleiterscheinung, ja ein wenig entwertet: die Verhedderung in der Theorie und den Fragen nach dem Verstehen der Poesie scheinen zwar unausweichlich (oder sogar Bedingung dieser Gedichte), zugleich aber ungenügend. wenn sich Czernin mit einem an die analytische Philosophie angelehnten Begriffsinstrumentarium ans (eigene) Werk macht, wird er, steht zu befürchten an, stets zu kurz greifen. nach den Gedichten scheinen seine Begriffe seltsam verbastelt, gleichsam formal verengt.
der Theorie-Autor möchte Gewissheit erlangen über Fragen, die ihn umtreiben in der Poesie, aber diese Gewissheit findet er dort nicht. die beiden Herangehensweisen erhalten zwar Aufträge voneinander, aber befremden letztlich doch im Zusammenspiel: je mehr sich der dunkle Bedeutungshorizont seiner Gedichte in dem alles Wissensmögliche Aufreißenden seiner Theorie lichtet, desto dunkler, und wie in desto kleinere Schachteln verpackt, sehen wir die Gedichtworte selbst in den zurückgelegten Gedichten verschwinden.
und umgekehrt: je mehr sich seine Gedichte unverstellt auf das Wort hin öffnen und uns lichten, desto mehr verengt sich das Buch gen Ende der Theorie hin auf ein Zu-Wissendes und Zu-Denken-Gegebenes, das sich als schlechtes Werkzeug für die Dichtung selbst erweist: Tappen im Dunkeln.
und doch spiegelt dieses unglückliche Verweisen aufeinander ja gerade die Grundstörung des Czerninschen Denkens: die Reibung zwischen dem, was sich einer denkt, was einer (womöglich sprachlos) erlebt, und dem, was er sagt.
gleichsam Nullpunkt und Endpunkt der Poesie, über den sie nie wird hinauskommen.
was habe ich mir nun selbst dabei gedacht? es scheint, Hand aufs Herz, nicht gänzlich durchdacht. das muss wohl so sein. ich kann mir nämlich oft nur eigene Gedanken machen, wenn ich ein Buch eher ungenügend gelesen habe. dafür kann ich etwas damit anfangen, kann ich mir etwas dabei denken, zusammenreimen. kann sogar fragen, was sich der Autor dabei gedacht habe.
lese ich allzu genau, läse ich alles, was mir der Autor hinterlässt, vom Boden auf, könnte ich dann behaupten, Czernin verstanden zu haben? aber von seinem schönen Denken hätte ich mir nichts angeeignet, es wäre nur ein Wiederholen. vielleicht bin ich auch einfach noch nicht so weit, dies gleichzeitig zu tun: Auflesen und Auslegen, Fortschreiben.
»Allerdings muss vieles geschehen sein und man vieles erfahren haben, um eine Sprache, und daher auch Aussagen, überhaupt verstehen zu können.« (Czernin)
wie wahr.
Nachtrag
zum einen möchte ich gern etwas korrigieren: es ist es offensichtlich falsch, dass Franz Josef Czernin selbst seine Gedichte als „Beispiele“ ansieht oder sie als solche ausgibt, wie es mein Text suggeriert. zum anderen möchte ich gern hinzufügen: der Konflikt zwischen Theorie und Gedicht scheint mir, je länger ich drüber nachdenke und solange die beiden in zweierlei Gestalt daherkommen, ein viel grundsätzlicheres und nicht speziell czerninsches Phänomen.
Franz Josef Czernin: zungenenglisch. visionen. varianten. München (Edition Lyrik Kabinett bei Hanser) 2014. 96. S., 14,90 Euro.