Hendrik Jackson: Tscheljabinsk oder die Herrschaft der Titanen
Hendrik Jackson
Tscheljabinsk
oder die Herrschaft der Titanen
Zum Gedicht: Tscheljabinsk
Eines der ersten Dinge, die einem auffallen, wenn man sich der russischen Einflusszone nähert, dem postsowjetischen Reich oder Eurasien, ist ein besonderer Zug in vielen Gesichtern, der in merkwürdigem Einklang steht, wie man merken wird, mit einigen Gewohnheiten der Einwohner und Gepflogenheiten des Landes. Dieser Zug – oder ist es eine Eigenart der Mimik, die eine innere Einstellung zum Ausdruck bringt? – begegnet einem womöglich schon am Terminal des Flughafens, wenn man in der Schlange steht oder die Stewardess einen begrüßt: eine gewisse Gleichgültigkeit, ein gewisser erschöpfter Fatalismus, den nur der Unkundige als Unfreundlichkeit oder schlechte Laune auslegen wird. Es ist nicht so, dass dem russischen Gesicht Vielfalt an Ausdruck mangelte. Auch würde ich scheuen, zu sagen, dass es eine Monokultur der Typen gäbe (wenngleich die Monokultur russischer Vornamen einem das nahe legt), doch wird man diesen Hang zur Gleichgültigkeit in vielen Dingen wieder finden, in vielen glücklichen und unglücklichen Variationen des Alltags, eine Tendenz, der man im Westen schwerlich in dieser Selbstverständlichkeit begegnen wird. Die Großherrin Gleichgültigkeit ruft alle ihre Genossinnen auf, in allen Spielarten: sie nimmt die Form der Melancholie bei den Feineren, Ruppigkeit bei den gröberen Gesellen an. Man wird sie unter den Erfahrenen finden, denen, die viel gesehen haben (und es gab in Russland immer viel zu sehen), einen fast weisen Gleichmut (wofür im Russischen bezeichnenderweise dasselbe Wort einsteht wie für Gleichgültigkeit), bei anderen wiederum den Hauch tschechowscher bescheidener Noblesse. Mal mag sie als borstige Derbheit daherkommen, mal als Unwillen, Auskunft zu geben, dann wieder als Abtun allen Verbesserungsstrebens: "doch nicht in Russland". Ob unter dem Banner der Kulturlosigkeit oder der klugen Voraussicht der Vergeblichkeit aller Dinge, noch die demütigste Unschuld und den selbstgefälligsten Widerling scheint oft eine grundsätzliche Agonie gegenüber dem eigenen Fortkommen und -können zu einen, die fasziniert und irritiert. Zuweilen meint man, diese entindividualisierende Indifferenz sogar in der russischen Intonation wieder zu erkennen, wenn das launige Aufbrausen in der Mitte des Satzes unausweichlich gegen Ende jedes Mal wieder in Müdigkeit und Nuscheln versickert (während, um ein Beispiel zu nehmen, die französische Intonation für gewöhnlich gegen Ende empört auf die Barrikaden steigt). Nicht Nullwert, taoistische Ruhe ist das, sondern eine seltsam kraftlose Disziplin, die jederzeit in disziplinlose, schiere Kraft ausbrechen kann, zum Beispiel wenn dann einmal, und immer seltener übrigens, die alte Tradition des Vodka-Trinkens auflebt. Eine Mischung aus Ohnmacht und Energie, Konvention und ungewöhnlich eigenem Denken, willig hingenommener Repression und Furchtlosigkeit, die den Westler immer wieder verstört, und der er meist mit den ausgelaugten und der Folklore entliehenen Begriffen von Tragik und Seele beizukommen sucht. Dabei sind die näher liegenden Erklärungen oft die genaueren, und hinter den Fassaden der von Schwärmern ausufernd interpretierten strengen Antlitze stecken meist ziemlich einfach dechiffrierbare Piktogramme allzu bekannter und simpler Wünsche.
Spätestens im Flieger nach Tscheljabinsk vergeht alle Spekulation über das russische Wesen, und ein einfaches, proletarisches Bedürfnisdenken tritt deutlicher zutage. Tscheljabinsk ist eine Industrie- und Arbeiterstadt und wie in klassischen Lehrbüchern beschrieben, scheinen gerade die Arbeiter ein erhöhtes Bedürfnis nach einem klar strukturierten, von Konventionen regulierten Leben zu haben.
Die Menschen hier, von der Mimik bis zu Kleidung und Gesprächen, und auch die Architektur – alles scheint so typisch russisch und zugleich so wenig besonders zu sein, dass man zunächst denkt, man befinde sich in einer Stadt mit einem Attraktionswert von Bielefeld oder Lüdenscheid-Nord.
Ring um Ring ist die Stadt von so bekannt anmutenden Schachtelhäusern, zigstöckigen Wohnkolonnen umgeben, dass einen zunächst schaudert, zumal die durchaus schönen Seen und Wälder, die das Tscheljabinsker Stadtgebiet aufweist, auch in jüngster Zeit von unförmigen Klötzen zugebaut werden.
Zugleich ist die Innenstadt, ähnlich wie Petersburg oder Nowosibirsk, von riesigen Achsen durchzogen, die den Menschen wenig Aufenthalt ermöglichen. Doch wo man in Petersburg den Blick an europäischem Kult und Palästen ablenken kann oder Nowosibirsk ruhige Fluchtstraßen bietet, gibt es in Tscheljabinsk außer einigen klassizistischen Häusern der Verwaltung oder der Regierung, einer Kirche und einem Park nicht all zu viel interessante Architektur: ein Opernhaus, eine Bibliothek, ein Zirkus, die Universität und die Kirow-"Hauptstraße" in der Mitte, die aber eher einer kitschigen Kurortfußgängerzone gleicht.
Dobro Poshalowat, Tristesse und Schwermut! Wenn es je Grund für Fatalismus gab, hier erscheint er materialisiert vor einem.
Argwöhnisch bewegen wir uns durch die graue Grandezza des sozialistischen Erbes, in dem die Menschen Sandkörner waren, bewacht von Lenin auf dem leeren Revolutionsplatz, auf den alle Straßen zulaufen und von dem die Passage abgeht. Lenin, der, wie so oft, mitten in der Stadt platziert, sich durch die Zeitenwende in ein quasi-buddhistisches Denkmal des Nichts verwandelt hat.
Der Anschein trügt. Nicht nur begehren die Bewohner der Stadt gegen ihr Schicksal auf, auch kennt die Stadt noch eine andere Geschichte, an die sie wieder anknüpfen möchte. Und vielleicht wundert sich Lenin nicht einmal, wenn nun Jazzklänge, mit der die Kirow beschallt wird, zu ihm herüberschwappen, war sie doch seit jeher Symbol für Exotischeres, eine der ersten Straßen hier und in enger Verbindung zum Symbol der Stadt: dem Kamel als Inbegriff der Seidenstraße, die ihren Weg auch über Tscheljabinsk nahm.
Während Petersburg der Weite der großen Achsen eine lebendige Untergundszene entgegensetzt und Nowosibirsk brodelt vor Mode und jungen Menschen, sind es in Tscheljabinsk Kultur und Sport, die ein Gegengewicht bilden. Manches davon spielt sich eher unter Einheimischen ab, man scheint daran gewöhnt, dass man unter sich ist, so wie es auch äußerst schwer ist, zu den ganzen Fabriken als Außenstehender Zugang zu bekommen.¹
Die modernsten dieser Fabriken, das Getriebe der Stadt, fußen auf einer Spezialistenkultur, die in über 100 Jahren in Ländern wie Deutschland entwickelt wurde.
Hier erst wurde mir vollkommen klar (weil ich aus einer Beamtenstadt komme, wo die Macht der Verwaltung die der Technik überwiegt), wie sehr Deutschland ein Land der „Titanen“ ist, der Effizienz und Ökonomie, selbst wenn die Deutschen dabei noch so umständlich und zäh zu Werke gehen. Ihr Kleinmut und ihre Enge, ihr Abzählen und ihre Liebe zur Vorschrift = ihre Kraft, Verlässlichkeit (allerdings nicht in menschlichen Dingen). Die Russen hingegen waren immer groß durch ihre Verschwendung. Schönheit, Kraft und Talent werden in Russland nach wie vor verschwendet. Man kann es lieben oder hassen.
Und hier gehen diese beiden Naturen eine eigenartige Symbiose ein, wie wir es in einem Vorzeigewerk für Erdölrohre, das überwiegend von Deutschen gebaut wurde, sehen konnten: eine so eigene Welt, ein Kosmos, phantastisches Panoptikum der eigenartigen Begriffe und überdimensionierten Apparate, in denen kleine Gehilfen an den Fundamenten der Welt schweißen, dass ein Versiegeln dieser Geheimnisse unsinnig erscheint: es würde ohnehin niemand verstehen. Man begreift hingegen plötzlich die Rede von der „zweiten Natur“ der modernen Lebeweise: man steht vor diesen Giganten und sorgfältigen zu pflegenden Molochen wie vor der Weite des Meers und klein wie unter dem bestirnten Himmel.
Und dann vermeint man, dies Einschüchternde auch in der Stadt zu spüren, nicht nur wegen der nachts ausgeblasenen Giftstoffe. Zum einen weiß jeder um die Belastung durch unsichtbare Faktoren wie Feinstaub, Abgase, Giftstoffe und sogar womöglich Strahlung durch die ganzen Atomunfälle der Station Majak. Zum anderen drückt sich das Titanische eben auch, wie erwähnt, in der Architektur aus. Zugleich hat es aber etwas Erhabenes, an der Arbeit „des Fortschritts“ des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts mitzuarbeiten.
So antworten die Bewohner der Angst um die Gesundheit und der Architektur typisch russisch mit Stolz und Lob der Stadt gegenüber Ausländern (während sie doch, unter sich, der Stadt eher in Hassliebe zugetan sind). Doch trotzen sie tatsächlich bewundernswert der auferlegten Bürde: in kaum einer anderen russischen Stadt stürzen sich die Menschen so wissbegierig auf Kultur, sind so neugierig, und fast nirgends sonst scheint das Wort noch so einen hohen Stellenwert zu haben. Es gibt eine lebendige, junge Dichter-Szene, Foto- und Poetenklubs, ununterbrochen Ausstellungen, Konzerte und Lesungen. Das ist mehr als nur ein Erbe der sozialistischen Politik, die den Fabriken Kultur verordnete: als hätten sich von allen sowjetischen Qualitäten in dieser Arbeiterstadt tatsächlich die besten erhalten.
Und so tummeln sich zwischen den Fabriken und Arbeiterfamilien, irgendwo in den Vororten, Zirkel von Dichtern und Liedertextern. Eine kleine Enklave der Poesie, Tscheljabinsk als ein Ort, wo die Literatur nach unten zeigt, ins Tellurische, existentiell ist, ein Mittel des Lebenserhalts, und zugleich nach oben: Flugbenzin, Treibstoff für Flüge zu höheren und besseren Sphären. Manche, das ist die Tragik, ersticken unter dieser Last der Aufgabe.²
Dass ausgerechnet hier der Meteor einschlug, scheint aus dieser Perspektive kein Wunder: Ist er doch gerade Symbol einerseits eines Tellurischen: verbranntes, gehärtetes Gestein, gleichsam aus dem Urgrund, der Urmaterie durch den Kosmos Millionen Jahre uns zugeflogen. Aus dem Unendlichen her das Zufälligste, Ungeistigste, das sich denken lässt. Aber als solches zugleich Projektionsfläche: dies Fremde, Kalte, Von-weit-her-Kommende bricht einen Spalt, durch den Sehnsüchte sickern. Wir beseelen noch dies karge Mineral mit Ideen und Wünschen, vor allem Ängsten und Befremdung, wachsen an ihm über uns hinaus und suchen den Kontakt mit wortwörtlich Außerirdischem. Tscheljabinsk war vielleicht schon vorher eine „Meteoritenstadt“: zeitgleich hässlich, verbrannt, verstrahlt, silbern-schwarz gehärtet, seelenlos, technisch-sportlich, titanisch und doch wie kaum eine andere beseelt von dem Wunsch nach mehr, nach Kosmos, Geschick, Geschichten und den Strahlen einer anderen Zukunft. Da wundert es nicht, dass schon jetzt die Stadt von Mythen, Geschichten und Aufzeichnungen zu diesem Kometen überquillt. Stoff für zukünftige Dichter.
¹ Die russische Paranoia bezüglich vermeintlich strategischer Punkte (das kann alles sein: Werften, Fabriken, alte Gebäude aber auch Zirkusse ...), meist nur Schrotthaufen oder "Achsen des Öden", um Steffen Popp kontextverfremdend zu zitieren, nimmt immer groteskere, ja neurotische Züge an. Das geht aber vom Staat und all seinen Unterabteilungen aus: In fast keinem Land finden die anarchistischen Theorien über die Krankheit des Staatsgebildes mehr Nahrung. Leider wirkt sich die Paranoia bis in alle Einzelheiten des alltäglichen Lebens aus, fast wieder wie zu früheren Zeiten, freilich etwas subtiler. Wenn einen die Concierge im Hotel gelangweilt fragt, wo man herkomme, oder die sogenannten "Administratoren" zu zweit im Restaurant rumgammeln, ausschließlich, um eine Speisekarte in der Hand zu halten und die Gäste zu ihren Plätzen zu begleiten (darin erschöpft sich ihre wesentlich Funktion), dann weiß man nicht, ob es sich hier tatsächlich um Überreste eines sozialistischen Beschäftigungssystem handelt oder nicht um eine grenzziehende, allumfassende Form der Überwachung, um Reglementierung und Pädagogik.
² An dieser Stelle möchte ich an Sergej Areschin erinnern und ihn ehren, der noch kurz vor unserer Abfahrt an einem denkwürdigen Abend seinen Debutband verschenkte und uns seine Gedichte rezitierte und zum großen Entsetzen aller zwei Wochen später verstarb.
(Hendrik Jackson: shots-stories.net / mit Dank an die Bosch-Stiftung, 2013)