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Helmut Heißenbüttel: Zur Lockerung der Perspektive

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen



Jörg Neugebauer

"Nicht nach neuen Klassikern suchen"


Zu einer Auswahl aus Helmut Heißenbüttels Literaturkritiken, die unter dem Titel "Zur Lockerung der Perspektive" erschien.



Aus dem umfangreichen literaturkritischen Werk Helmut Heißenbüttels (1921-1996) haben die Herausgeber Klaus Ramm und Armin Stein eine, wie es scheint, sehr persönliche Auswahl zusammengestellt. Nebenbei erfährt man, welche Autoren und Werke H. sonst noch rezensiert hat, manchmal fragt man sich: Warum wurde dieser Text nicht, dafür jener andere aufgenommen? Offenbar soll H.s Schaffen als Kritiker in seiner ganzen Breite gezeigt werden. Dabei werden durchaus Grundlinien deutlich.
Heißenbüttel, durch seine Stellung als Leiter der Abteilung Radio-Essay beim damaligen Süddeutschen Rundfunk in den nicht nur literarisch höchst bewegten Jahren zwischen 1957 und 1981 als Schriftsteller wirtschaftlich abgesichert, war eine Institution in dieser Zeit, eine Institution jenseits des Mainstreams. Seine sozusagen nebenbei verfassten Rezensionen literarischer Neuerscheinungen erschienen in Publikationsorganen unterschiedlichster Couleur: In der "Frankfurter Rundschau", in der "Süddeutschen Zeitung", in "Christ und Welt", in "LUI" und im "Spiegel". Sein Grundsatz als Kritiker war:


"Ich bin eigentlich von mir aus ein Gegner der negativen Kritik, also der Verriß-Kritik, weil ich finde, es ist Selbstbefriedigung, und führt auch sachlich zu nichts".


Demgemäß findet man kaum negative Rezensionen in diesem Band, und auch sonst hat er wohl kaum welche geschrieben. Folgerichtig gibt es hier nichts über Autoren wie Grass, Böll, Walser oder Handke zu lesen, außer kleinen Nebenbemerkungen ("geschwätziger autobiographischer Fetisch" etwa zu Grass und Walser). Ein Sonderfall ist Ernst Jünger, dessen Werk H., wie er ausführlich darlegt, als junger Mann schätzte, später zunehmend hart kritisiert ("Ernst Jünger ist so eher auf einer Linie zu sehen mit Albert Speer oder dem Großadmiral Dönitz als mit irgendeinem vergleichbaren Schriftsteller"). Von der älteren Kritikergeneration um Friedrich Sieburg und Hans Egon Holthusen unterscheidet ihn die "gelockerte Perspektive": Heißenbüttel geht gerade nicht von einem festen (literarischen) Weltbild aus, sein Credo lautet vielmehr:


"Ich vertraue eher denen, die ihre Kriterien und Maßstäbe aus dem jeweiligen Werk herauszulesen versuchen, die nicht darauf aus sind, es zu messen, es abzumessen, sondern es auf seine Identität mit sich selbst, vielleicht noch mit anderen Werken des gleichen Autors prüfen."


An Sieburg und Holthusen, die das etablierte Feuilleton beherrschten, arbeitet H. sich immer wieder ab. So wirft er Sieburg vor, Autoren wie T.S. Eliot, Ezra Pound, Henri Michaux, Raymond Queneau, Gertrude Stein und Samuel Beckett nicht gekannt geschweige je besprochen zu haben - ebendie also, die für H. - und sicher nicht bloß für ihn - das Neue in der Literatur der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts ausmachen. Von Holthusen, der einen Sammelband mit eigenen Rezensionen unter dem bezeichnenden Titel "Das Schöne und das Wahre" herausgab, unterscheidet er sich fundamental durch seine Weigerung, Literatur nach von vornherein festgelegten Kriterien, sie gar nach außerliterarischen Gesichtspunkten wie "Moral" zu beurteilen. Für Heißenbüttel gilt stattdessen:

"Es ist Literatur, wenn es literarisch wichtiger ist, durch eine leichte Verstellung, eine kleine Verschiebung, Nebensinne, Hintersinne, Unverhofftes zum Vorschein zu bringen als weiterhin darauf herumzutrampeln, was wer wem tut, was wem passiert, was wer an Überzeugung und Glauben hochzuhalten habe."


So setzt er sich nachdrücklich für einen sonst weithin ignorierten Autor wie Franz Mon ein, dessen "herzzero" (erschienen 1968) er als "wahrhaft einmalige Leistung" bezeichnet - ähnlich wie das Werk Alexander Kluges im Bereich der Prosa. Zu Uwe Johnsons Texten hat er ein zwiespältiges ("Uwe spinnt sein Garn"), zu Arno Schmidt ein unterkühlt positives ("Das Verfahren ist sprachlich autonom"), zu Köppen und Hubert Fichte ein geradezu enthusiastisches Verhältnis, die anfängliche Begeisterung für Ingeborg Bachmann klingt später stark ab.

"Lockerung der Perspektive" heißt aber auch, dass die außerdeutsche Literatur in den Blick gefasst wird. Seine guten englischen und französischen Sprachkenntnisse ermöglichen es Heißenbüttel, Werke der entsprechenden Autoren im Original zu lesen, auch solche, die noch gar nicht auf Deutsch erschienen sind. Dabei macht er sich für Autoren stark wie den Surrealisten Benjamin Péret, zu dessen Schreibweise er in einer seiner Radiosendungen bemerkt:

"Beispielhaft zeigt sie, wie es möglich sein kann, daß nicht der realistische oder logische Bezug den Fortgang bestimmt, sondern die Desintegration der Bezüge. Diese Desintegration wird aufgehoben im Fortgang der Aussagen, der Sätze. Dieser Fortgang entwickelt seine eigene Folgerichtigkeit und Logik."


Michel Leiris, Kenneth Patchen, Nathalie Sarraute sind weitere Autoren, auf die sich dieser Satz anwenden ließe und deren Werk H. ausführliche Besprechungen widmet - Wallace Stevens, den Lyriker, nicht zu vergessen. Zu dessen Band "Der Planet auf dem Tisch" schreibt er:


"Stevens' Gedichte leben aus der Überzeugung, daß man allein mit dem Welt- und Sachgehalt, den Wörter und ihre Verbindungen von sich aus haben, so etwas wie Poesie machen kann."


"Lockerung der Perspektive" heißt auch, dass Heißenbüttel als Kritiker bereit ist, den einmal eingenommenen Standpunkt zu ändern, so im Fall Jünger, so auch in Bezug auf Fichtes Roman "Die Palette", den er zunächst als "pubertär" abtut, ihn später geradezu preist als herausragend unter den Büchern der 60er Jahre. Und weit gefasst ist die Perspektive schließlich auch, was den möglichen Gegenstand literarischer Kritik betrifft. Ganz selbstverständlich werden Kriminalromane in die Betrachtung mit einbezogen, sie fallen nicht von vornherein schon durchs Sieb, werden aber unter literarischem Aspekt eher kritisch beurteilt - was den begeisterten Krimileser Helmut Heißenbüttel nicht daran gehindert hat, 155 Simenon-Bände in seiner Bibliothek stehen zu haben, selbstverständlich alle gelesen!

Sein Rat, heut ein Vermächtnis (er würde dieses Wort aber nicht mögen), in "Kleine Attacke auf die Literaturkritik 1979 von einem, der das Metier selbst ausübt":


"Nicht nach neuen Klassikern suchen. Wer sich als Klassiker anbietet, ist schon verdächtig. Wer Klassiker anzupreisen versucht, ist noch verdächtiger. Irritation und Destruktion dem Gefestigten vorziehn, aber diesen Grundsatz auch umstoßen und vielleicht gerade einen Stillen im Lande bevorzugen."



Helmut Heißenbüttel: Zur Lockerung der Perspektive. 5 x 13 Literaturkritiken. Hg. von Klaus Ramm unter Mitarbeit von Armin Stein. Göttingen (Wallstein Verlag) 2013. 360 S., 32,- Euro.

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