Hellmuth Opitz: In diesen leuchtenden Bernsteinmomenten
Timo Brandt
Runde um Runde Zärtlichkeit
„Auf meinem Schreibtisch spielt die kleinste Band der
Welt […]
Links das blaue Nilpferd mit den Bermuda-Shorts. An dieser
Stelle seit Ewigkeiten schon dabei. Geschlüpft aus einem
siebten Ei. Weiter vorn ein USB-Stick mit dem Aufdruck
12 GB. […]
Und schließlich ein gelber Sechserstein von
Lego. Sein Ego rührt aus Zeiten her, da er noch Säule
war, Eckpfeiler, Fundament.“
Ich las Gedichte von Hellmuth Opitz zum ersten Mal, als ich noch gar nicht wusste, was mit der Bezeichnung ‚Lyrik‘ alles gemeint sein konnte. Die Bände „Engel im Herbst mit Orangen“ und „Die Sekunde vor Augenaufschlag“ gehörten zu meinen ersten Leseerfahrungen auf diesem Gebiet (außerhalb der Klassenzimmer und mit Goethe und Hölderlin war ich damals noch nicht warm geworden). Und obwohl ich seitdem sehr, sehr viel Lyrik gelesen habe, prägen diese Bände mein Bild von der Lyrik bis heute.
Zum einen natürlich, weil ich mich in diesen Gedichten immer gut aufgehoben, geradezu heimisch fühlen werde. Ich würde allerdings behaupten, dass das nicht nur an meiner besonderen Beziehung zu ihnen liegt, sondern dass Opitz-Gedichte allgemein ihren Leser*innen sehr offen und einnehmend gegenüberstehen. Nun könnte man ihnen natürlich einen Strick daraus drehen, dass sie selten wirklich unbequem sind, von ihrer Zärtlichkeit und ihrer Magie nicht lassen, um auch mal ein explizit (sprach)kritisches Bewusstsein aufkommen zu lassen. Solcherlei wird bei Opitz eher unter der Hand und nebenbei gereicht, was sich dann oft etwas salopp ausnimmt.
„Im Radio ist die Rede
vom Bekämpfen der Fluchtursachen.
Als würd ich nicht die ganze Zeit versuchen,
mir den Himmel schön zu trinken. Doch wie
soll das gehen bei der arroganten Einstellung
des Regens: immer so von oben herab.“
Doch derlei Kritteleien greifen für mich nicht, weil meiner Meinung nach das Bewusstsein nicht fehlt, sondern lediglich auf andere Aspekte ausgerichtet ist. Opitz Gedichte laden, wie es trefflich auf dem Buchrücken heißt „Wirklichkeiten lyrisch auf, bringen alltägliche Momente zum Leuchten“. Diese Beschreibung könnte auf dem Rücken vieler Gedichtbände stehen; doch im Fall von Opitz ist es keine Weichzeichnung, kein überzeichnendes Lobhudeln: tatsächlich kommen bei wenigen Dichter*innen die Elemente „Alltag“ und „leuchten“, „Gewöhnlichkeit“ und „lyrisch“ so gut zusammen wie bei ihm.
Das ist der andere Grund, warum seine Gedichte auch heute, nach der Lektüre wesentlich bekannterer Dichter*innen und ambitionierterer Werke, immer noch ihr Licht in mein Verständnis von Lyrik werfen: sie widmen sich, mit einer unverbesserlichen Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit, den kleinen Gestalten, Momenten, Dingen des Lebens. Sie fragen nicht danach, ob ein Gegenstand lyrisch relevant ist, wie weit eine Beschreibung poetisch reichen muss. Das führt manchmal auch zu Gedichten, in denen die Belanglosigkeit überhandnimmt – aber noch viel öfter führt es zu Gedichten, deren Bilder und Bewegungen sich in meiner Erfahrungswelt hundertfach widerspiegeln; in meinen Erinnerungen, in meinen Sehnsüchten und in den Eindrücken, die noch ein bisschen flüchtiger als diese beiden sind. Wenn Opitz zum Beispiel ein verlassenes, heruntergekommenes Strandfreibad heraufbeschwört:
„Am klirrenden Mast der Fetzen
einer Fahne, die einst
für Sonnencreme warb,
jetzt starren die Startblöcke
vor Rost, gebräunt vom Salz
Wind, der kopfüber eintaucht
in die Leere und die 400 Meter
in Rekordzeit durchmisst“
bin ich direkt vor Ort; aber da ist noch ein weiterer, stärkerer Effekt: meine Sinne werden geöffnet und allerlei Erinnerungsfetzen, kaum zuzuordnen, wehen, nahezu ungefiltert, herein.
Solche Illuminationen, die das breite Inventar an Wirklichkeit hereinbitten, sind für mich das Markenzeichen von Opitz‘ Dichtung. Sie verleihen ihr einen Glanz, den ich immer wieder in Gedichten suche. Natürlich gibt es viele andere Eigenschaften, die Gedichte lesenswert machen, dieser Glanz ist kein Muss. Aber er ist eine liebgewonnene Erscheinung; zumal dort das Großartige und das Schlichte unmittelbar zusammenfallen.
„und
selbst hier, in den Zierbüschen am Straßenrand,
in der hingeklirrten Schrift ihrer Zweige, auf einmal
ein Dompfaff, das rote Komma seiner Brust
ein angestrichener Flüchtigkeitsfehler.“
Der neue Band „In diesen leuchtenden Bernsteinmomenten“ beginnt mit Liebesgedichten, oft erotisch und verheißend angehaucht, spielerisch und tückisch. Ich finde, dass es keine gute Idee ist, mit Liebesgedichten zu beginnen; der Überschwang und die Fülle, die solchen Texten oft innewohnen, zieht einen zwar direkt an, aber verschießt auch früh viel Pulver.
Allerdings bin ich gerade für Opitz‘ Liebesgedichte sehr anfällig – eines mit dem Titel „Isarbrücken“ gehört sogar zu meinen Lieblingsgedichten. Auch diesmal gibt es – neben vielen gelungenen und gekonnten, aber nicht unbedingt berührenden Einlagen – wieder einige Perlen, u.a. das Gedicht „Nachtschwimmen“, bei dem ich sofort den Song der Band R.E.M. im Ohr habe.
„Auf dem Weg zum Steg kichern wir unentwegt,
weil es wieder das Heimliche hat,
wie damals im Freibad,
heillos beschwipst vom sternhagelvollen August,
als ich dich das erste Mal nackt sah,
wunderbar deine unentschlossenen Brüste:
wie du mir entgegenfrorst.“
Es folgen Kapitel mit Stadt- und Peripheriegedichten, in denen Opitz‘ durchdringende Poesie ein paar schöne Shows und nachdenkliche Schnörkel bereithält. Immer wieder ein Schmunzeln in den Gedichtecken, aber auch immer wieder Unebenheiten in ihrem Verlauf, in denen die Aufmerksamkeit auf den Gestus der Wahrnehmung gelenkt wird. Dann wieder eine bestimmte Sanftheit, die an die Gedichte des Schweden Lars Gustafsson erinnert. Und eine Verspieltheit hintendran, die sich z.B. an einen Schulhof im August versucht:
„Im Schwitzkasten eines Mittags,
der seit Wochen das Mantra
leerer Stundenpläne murmelt.
Die alte Platane nickt, schwer-
hörig wie sie ist, nickt wieder ein
mit hängenden Schultern
über den Hausaufgaben der
Spinne, die dem Basketballkorb
ein neues Netz nähen muss.“
Des Weiteren noch Gegenstandsgedichte, Musikgedichte und Gedichte vom Betteln – letztere finde ich, zugegeben, etwas problematisch, auch wenn sie unter dem Titel „Skulpturenpark der Demut“ in Erscheinung treten. Es wäre zumindest gut gewesen, anzugeben, in welchem Rahmen diese Gedichte entstanden sind (bei den Musikgedichten wird es hinten ausgewiesen).
Im allersten Gedicht des Bandes beschreibt Opitz eine Szene aus seiner Jugend, weit entfernt und doch mit dem Andauernden insofern verknüpft, als dass wir von manchen Momenten ja nicht loskommen und vielleicht die meiste Zeit unseres Lebens hinter ihnen zurückbleiben werden mit dem, was wir gerade erleben.
„Jahrtausende später
wird man uns finden,
gefangen in solchen
Bernsteinmomenten.“
Hellmuth Opitz: In diesen leuchtenden Bernsteinmomenten. Gedichte. Bielefeld (Pendragon Verlag) 2017. 128 Seiten. 15,00 Euro.