Harry Oberländer: chronos krumlov
Alexandru Bulucz
Der schmerzliche Reim. Zu Harry Oberländers Gedichtband chronos krumlov
Nach der Lektüre des von Wulf Kirsten verfassten Vorworts zu Harry Oberländers neuem, in der edition faust erschienenem Gedichtband chronos krumlov ist man zunächst gewarnt: Dieser, so heißt es darin, „hat sich intensiv in der Geschichte umgesehen. Er hat sie regelrecht studiert, indem er sich in einen Chronisten verwandelt, in einen, der ins Punktuelle zu filtern weiß, so dass er das Faktische in Poesie transformiert.“ Dieser flüchtigen Feststellung, die bei Kirsten nicht näher ausgeführt und auch nicht an Gedichten veranschaulicht wird, gilt es nachzugehen.
Kann ein Dichter auch Chronist sein, ohne zugleich Beschaffenheit und Stil seiner Dichtung aufgeben zu müssen, also viel von dem, was über das rein Faktische, die reine Beobachtung, den reinen Bericht hinausgeht? Das ist die Frage. Gelingt es ihm, dem Dichter Harry Oberländer, das Panoramabild der böhmisch-tschechischen, an den Ufern der Moldau gelegenen Stadt Krumau tatsächlich poetisch einzuholen, auch wenn er es mit Fakten belegen will? Wie viele Stimmen verträgt ein Gedichtband? In Oberländers kommen einige vor, so zum Beispiel die Paul Celans, Franz Kafkas, Theobald Hocks, Egon Schieles, Adalbert Stifters und Johannes Urzidils. Läuft ein Dichter, wenn er zu viele Personen mit direktem Bezug zur Stadt zu Wort kommen lässt, nicht Gefahr, zu einem Stimmenimitator zu werden? An die Härte, mit der Thomas Bernhard den Stimmenimitator angeht, wird man sich gewiss erinnern: „Als wir ihm [dem Stimmenimitator] jedoch den Vorschlag gemacht hatten, er solle am Ende seine eigene Stimme imitieren, sagte er, das könne er nicht.“ (Thomas Bernhard, Der Stimmenimitator)
Sobald man in die Gedichte hineinliest, erweisen sich diese Befürchtungen als grundlos. Den Weg zwischen Dichtung und Chronik, den Oberländer einschlägt, erkennt man an seiner Umsetzung, die bei ihm etwas hat, was der neueren Literatur vielleicht allgemein etwas abgeht: nämlich Witz. Zum Beispiel überträgt er Theobald Hocks (1573-1624) rätselhafte Worte „durch othebladen öckhen von ichamp / eltzapffern bermeorgisschen secretarien“ wie folgt: „durch abend holten köche nach pech / ikonenbroschen emsiger secretarien / oder / durch theobalden höckchen von china / secretarien pferzapft regnerischen lobens“ (aus „zur erinnerung an theobald hock“).
Es ließen sich weitere Beispiele anführen, wie sich Oberländer in seinem Gedichtband um die Durchsetzung seines Vorhabens verdient macht, Dichterchronist zu sein.
Wie steht es um die Komponente der Vergänglichkeit in seinen Gedichten, bedenkt man, dass Chronos, der griechische Gott der Zeit, bereits im Titel des Gedichtbandes sein Amt antritt?
In Oberländers als Nachwort fungierendem Essay berichtet er von einer Ausstellung Ivan Kafkas, die im Juli 2010 im Egon Schiele Art Centrum in Český Krumlov stattfand und Time Timeless hieß: „Hell erleuchtet in einem Winkel des geräumigen Dachbodenraums, liefen sie [Zeiger auf 29 Stelen] ohne Ziffernblatt und ohne Zeiger für Stunden und Minuten im Sekundentakt im Kreis. Die Zeiger zeigten Vergänglichkeit, Zeit, wie sie vergeht, aber ohne Relation, ohne Maß.“ Diese relationslose, maßlose, zeitlose Zeit ist bei Oberländer der poetische Eigenblick, aus dem das lyrische Subjekt auf die Stadt Krumau mit ihrem „Glanz früherer Jahrhunderte“ und die eigenen Aufenthalte dort (sicherlich auch sehr nostalgisch) zurückblickt: „das land schlägt die sehnsucht an / die unendliche“ (aus „böhmerwald neunzehnhundertzwei & zwanzig“), „an der neige des sommers, / an der neige der zeiten, / das sein, die stille, die dinge“ (aus „glöckelberg 5 / kosmisch“). Aber ist die Sehnsucht nach Zeiten, in denen man seine stille, seine glückliche Mitte jenseits aller Schwierigkeiten im Alltag finden konnte, nicht ein universaler Ausdruck menschlichen Daseins? „das junge, das alte gesicht, das vergehen / jenseits der strömung im moldaugeklipp“ (aus „im geklipp). „Gib zu, dein einziges Thema war die Zeit“, möchte man mit Czesław Miłosz auch hier sagen.
Dass die ‚stillen‘ und zurückhaltenden Gedichte Oberländers einen tiefen Eindruck hinterlassen, man ihnen unmittelbar seine Aufmerksamkeit zuwendet, liegt daran, dass sie sich nicht explizieren, beinahe etwas verschweigen. Insofern ist das dem Gedichtband vorausgeschickte Gedicht „poetische reduktion, fischergasse/rybárská nr. 37“ ein programmatisches Gedicht: „glaub nit ales was du hörst / thu nit alles was du kannst / sag nit alle was du waist“. Genau das aber verweist scharf auf die Auseinandersetzung mit deutsch-jüdischer Geschichte. In einem seiner wohl kraftvollsten, aber auch schmerzlichen Gedichte, dem Gedicht „glöckelberg 6 / pater engelmar“, kritisiert Oberländer das Vergessen/ Verdrängen der Geschichte im Gedicht bzw. die Entscheidung, das Wissen über sie nicht weiterzugeben: „vater was hat denn der pfarrer getan / sei still kind, es geht um den krieg // mutter, wer hat den pfarrer geholt / sei still kind, es geht um heimat und sieg // vater, wo hat man ihn hingebracht / sei still kind, nach dachau im dunkel der nacht // mutter, was wird da in dachau gemacht / sei still kind, das soll man nicht fragen // liebe eltern, sagt mir doch nur warum / sei still kind, da bringt man die juden um // wir wollen nichts wissen und sagen“. Stark erinnern diese Zeilen an das Gedicht „Nähe der Gräber“, das Paul Celan im Andenken an seine Mutter, die in einem Lager in Transnistrien erschossen wurde, schrieb und wie folgt endet: „Und duldest du, Mutter, wie einst, ach, daheim, / den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim?“ Wie kann man auf die Diskrepanz zwischen den unvorstellbaren Verbrechen der Nazis und dem „deutschen“ Reim, der immer auch ein (Reim-)Spiel ist und selbst vor einem solchen Verbrechen nicht haltmacht, antworten? Die Mutter, von der Celan spricht, ist gewiss auch als Muttersprache zu verstehen.¹ – In Celans, in Oberländers schmerzlichen Reimen wird man womöglich eine Antwort darauf finden …
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¹ Diesen Hinweis verdanke ich dem Literaturkritiker Tillmann Reik.
Harry Oberländer: chronos krumlov. Gedichte. Mit einem Vorwort von Wulf Kirsten und einem Essay des Autors. Frankfurt am Main (edition faust) 2015. 72 Seiten. 18,00 Euro.