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Harald Hartung: Die Launen der Poesie

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen



Walter Fabian Schmid

Keep it simple!


Wozu brauchen wir überhaupt (noch) Lyrikkritik? Muss man die leserabschreckende Lyrik an Bord lassen, wenn die Literaturkritik an sich schon auf dem sinkenden Schiff ist? Ja und gerade deswegen! Denn welche Funktion hat die Literaturkritik überhaupt noch? Eine Wächterfunktion? Eine Deutungshoheit? Ne, diese aristokratische Machtstruktur ist zum Glück weg. Und wenn ich einen Impulsgeber brauch, sprech ich lieber mit Übersetzern, die sind näher am Puls der Zeit. Wo die Kritik aber noch das Potential zu einem ortsunabhängigen Vermittlungsmonopol hat, das ist die Lyrik. Hier werden Marktmechanismen, die eine fundierte Auseinandersetzung umgehen, nie anstelle des ästhetischen Urteils treten. Im Gegenzug ist Lyrik aber auch stark auf jenes bildungsbürgerliche Vehikel angewiesen, weil eben keine aufwändigen Marketingstrategien zur Verfügung stehen und auch nicht effektiv wären.

Wenn man allerdings von Kritik-Kritik spricht, sprechen meist nur Feuilletonrezensenten über sich selbst ohne einen Blick in jene Medien zu werfen, wo die meisten Lyrikrezensionen erscheinen – und da gibts mehr als die Frankfurter Anthologie. Deswegen wird Lyrikkritik auch kaum öffentlich reflektiert. Wie steht sie überhaupt da und vor welchen Schwierigkeiten steht sie? Ihr grundlegendes Problem ist vielleicht, dass sie Mut braucht. Schliesslich geht sie immer auf Kosten des Autors, weil sie keiner Werkausgabe, keinem Gedichtband, nicht einmal einem einzelnen Gedicht gerecht werden kann. Deswegen braucht es Entscheidungsfreude, welchen Zugang man wählt – theoretisch, ästhetisch, literaturgeschichtlich, biographisch oder doch lieber mit der Hermeneutik am Inhalt entlang? In der notwendigen Verkürzung steckt nämlich auch schon Kritik in Form von «Zensur».


Und schriftet man dann doch etwas, spricht man mit seiner Besprechung – elitärer Scheiss! – nur die Intellektuellen an. Klar. Allerdings sollte ein Vermittler auch ein Didaktiker sein, um Lesern das als schwierig verrufene Genre verständlich zu machen. Also weg von der Abstraktion hin zur Reduktion. Schliesslich kann man hinter Komplexität einen Haufen Bullshit verstecken, aber wers einfach hält, zieht wenigstens gleich blank. Und auch dazu gehört Mut, wenn man bedenkt in welchem Zirkel man sich da bewegt.

Zum Glück gibt es noch ein paar solcher Menschen. Harald Hartung ist einer davon. Seine unter der dem Titel Die Launen der Poesie von Heinrich Detering herausgegebenen Rezensionen der letzten dreissig Jahre demonstrieren vor allem, wie klar und eindeutig man über Dichtung sprechen kann. Unaufdringlich und undogmatisch versteht er es auch für unbedarfte Leser erste Zugänge zu legen und Neugierde zu wecken.


Mit seiner Vorliebe für Werkausgaben ist das aber auch relativ einfach. Bei einem Gesamtwerk gibts schliesslich genügend Material, über das man schreiben kann, und eine abgeschlossene Biographie lässt einen flexibleren Umgang zu. Nur, dass damit der Untertitel Deutsche und internationale Lyrik seit 1980 etwas in die Irre führt. Denn eigentlich geht es nicht um Lyrik seit 1980, sondern um Publikationen seit 1980. Und mit (Wieder-)Entdeckungen wie Vittorio Sereni, György Petri, Attila József, D. J. Enright, Paavo Haavikko, Michael Hofmann, Odysseas Elytis, Ernst Blass oder H. G. Adler stellt Harald Hartung nicht nur zahlreiche Persönlichkeiten und ihre Schreibweisen, sondern auch diverse Kulturen und Lebensgeschichten vor.

Interpretatorisch ist Harald Hartung eher klassisch hermeneutisch unterwegs; und das macht ihn zu einem sehr persönlichen Rezensenten. Schliesslich schreibt bei der Hermeneutik immer das eigene Ich mit, weil sie nun einmal auf einem subjektiven Verstehen basiert. Nur sind Verstehen und Verständnis leider nicht dasselbe, auch wenn sie Hartung nicht voneinander trennt. Dass er so gutmütig ist, ist zwar ehrenvoll, aber ebenso schade. Denn erst an Verrissen erkennt man die Qualität eines Kritikers, weils dafür eine intensivere Auseinandersetzung und eine schärfere Analyse der Texte braucht. Allzu negative Kritiken wurden allerdings bewusst ausgespart, wie man aus dem emphatischen Nachwort von Heinrich Detering erfährt.

Was Hartung dann aber doch etwas suspekt anschaut, ist alles, was in Richtung Wagnis geht. Über Oswald Eggers Herde der Rede schreibt er z.B.: «Die Faszination, die sich einstellt, verbraucht sich schnell (...) Was dabei herauskam, kann man modisch selbstreferenziell oder altmodisch narzistisch nennen.» Und bei Durs Grünbeins Grauzone morgens stellt er fest: «Da ist für den Autor noch viel zu tun, wenn er übers Epigonale hinausgelangen möchte.» Das macht die Die Launen der Poesie natürlich auch zu einem Stück lyrischer Zeitgeschichte.

Wer aber Harald Hartung als wirklich scharfzüngigen Kritiker erleben will, ist besser beraten, ihn in mündlicher Diskussion zu erleben und beispielsweise Das Lyrische Quartett nachzuhören. Dort erscheint er spontaner, direkter und ehrlicher als in seinen zurückhaltenden, wohl überlegten Rezensionen und leistet sich auch mal bewusst einen Ausrutscher oder gibt haltlose Statements ab, um die Diskussion anzuheizen. Denn auch das muss ein Kritiker ab und an tun.



Harald Hartung: Die Launen der Poesie. Deutsche und internationale Lyrik. Göttingen (Wallstein Verlag) 2014. 376 S., 24,90 Euro.

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