Harald Albrecht: Mantis religiosa
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						Harald Albrecht
Mantis religiosa
Diese hier ist aus Sprache gemacht, einer deutlich gottesanbeterischen.
Weil sie im Paradies erfunden wurde (wie Georg Philipp Harsdörffer behauptet),
hält sie Verbindung zum Extraterrestrischen, darf sie
die mitgebrachten, gebeugten Verben als Fangschrecken
ans Ende ihrer Sätze setzen und werden,
was sie ist, fleischfressend, wie die Poesie.
Furchtlose kleine Kämpferin, die Mantis!
Präzisionistisch ihre Lauer,
kannibalisch ihre Einbildungskraft, Wirklichkeit
ihre Mundklaue wenn man
ein Männchen ist, Probierstückchen der Angebeteten,
wie sie des Ihren. Er
groß
geschrieben, weil Er das Wort ist,
das fleischgewordene, dem sie
anbetend-beugend-bindend
das Los gelesen hat,
die fleischfressende Religiosa.
In: Harald Albrecht: Wie duftet die auf Bibel kalibrierte Sprache?
Aphaia Verlag, München 2020, S. 19.
Jürgen Brôcan
						
						Die omnivore Sprache
						
						Der Band Wie duftet die auf Bibel kalibrierte Sprache?,
						dem das voranstehende Gedicht entnommen wurde, belegt treffend, daß Harald
						Albrecht ein Poeta doctus im besten Sinne ist und seine Dichtung zutiefst
						philosophisch, durchdrungen von Bildungslust, auf intensiver Suche nach einer
						Sprache für die Darstellung der Welt und zugleich im Bewußtsein, daß vor allem
						die Sprache unsere Wahrnehmung beeinflußt, wenn nicht gar formt. Weit gefehlt
						allerdings die Annahme, eine solche Dichtung sei spröde, denn trotz des hohen
						Abstraktionsgrades durch syllabische Abhorchung der Sprache besteht immer eine
						lebhafte Verbindung zu den Dingen ringsum – die Welt selbst, samt ihren
						artifiziellen Werken, macht das Gedicht welthaltig und somit lebendig.
						
						Der berühmte Entomologe Jean-Henri Fabre schreibt im fünften
						Buch seiner Erinnerungen eines Insektenforschers (Kap. 18) über die
						Mantis religiosa: »Das fromme Gehabe tarnt grässliche Gewohnheiten; die
						flehentlich erhobenen Arme sind Mordmaschinen: Sie lassen nicht den Rosenkranz
						durch die Finger laufen, sie töten alles, was in ihre Nähe kommt.« Bereits hier
						findet das Eindringen religiöser Metaphorik in die exakte
						naturwissenschaftliche Beobachtung einen Ausdruck. Deshalb verhehlt Albrechts
						Gedicht über die Mantis seinen Ursprung aus der Sprache erst gar nicht: »Diese
						hier ist aus Sprache gemacht, einer deutlich gottesanbeterischen«, denn sie
						wird unversehens zu einer Allegorie über die Sprache aus Sprache erklärt, die
						zugleich wieder das Tier selbst in ein anderes Licht stellt, ja sogar die
						Sprachschöpfung an die Seite der realen Schöpfung.
						
						Wie läßt sich im Zeitalter der Säkularisierung und
						Entmystifizierung über Religion schreiben – oder vielmehr über ein der
						religiösen Erfahrung nahestehendes Gefühl? Und wie kann man über Sprache
						schreiben, ohne sofort auf eine Metaebene zu geraten, nämlich ins oft gepflegte
						und in den meisten Fällen langweilige, ermüdende ›Schreiben über das
						Schreiben‹? Der am Anfang des Textes genannte Georg Philipp Harsdörffer, ein
						Barockdichter und Sprachspieler ersten Ranges, hat in seinem großen Lehrbuch Poetischer
						Trichter die Erfindung des Gedichts »von dem Wort / oder von dem Dinge
						selbsten / darvon man handelt / oder von den Umständen desselben / oder von
						gehörigen Gleichnissen« abgeleitet. Weil für ihn der Ursprung der Sprache im
						Paradies lag, hat er sich zudem um die Reinheit der Sprache bemüht, die
						wiederzuerlangen die Aufgabe der Dichtkunst sei. Sprache in solchem frühen
						Diskurs ist somit zwar göttlichen Ursprungs, sie wurde aber eindeutig gegeben
						zur vieldeutigen Benennung der Dinge in der Welt.
						
						Eine »Verbindung zum Extraterrestrischen« gesteht Albrecht
						der Sprache ebenfalls zu, die Wortwahl indessen verläßt den Bereich einer
						demutsvollen Religiosität und verortet sie ganz irdisch im Fleisch. Die
						Gottesanbeterin – ihre gleichnishafte Bedeutung schwingt natürlich von Anbeginn
						mit – ist eine sprachbeflissene; und in dieser Eigenschaft kennt sie sowohl die
						satzbauenden als auch die zerstörerischen Kräfte, die der Dichtung innewohnen.
						Wenn das Wort bereits am Anfang war, bei Gott, sogar selbst der Gott, dann ist
						der fleisch- und weltgewordene Gott einer, der sich kannibalisch verzehrt. Die
						Realität wird angelockt von der Einbildungskraft der Sprache, das Mundane
						verwandelt sich im Mund, in der »Mundklaue«, zu einer anderen Rede – allerdings
						erfährt man am Ende des Gedichts nicht genau, von welcher Art denn diese neue
						Rede eigentlich ist. Die hehre Dichtung wird hier der Aura ihrer Reinheit
						beraubt, sie ist gefährlich, brutal – und damit vielleicht nur umso wahrer. Die
						Sprache erfindet einen Gott, der eine Sprache erfindet, die am Ende den Gott
						wieder zerstört.
						
						Handelt es sich also um ein blasphemisches Gedicht im Gewand
						von Lobpreis und Anbetung, oder ist der blasphemische Funke der Ursprung des
						dichterischen Feuers, das seine Beute stets verschlingt? Der Name ›Mantis religiosa‹ leitet sich vom Altgriechischen
						μάντις ab, Wahrsager, Zeichendeuter. Nimmt die Mantis des
						Gedichts ein Stück Wirklichkeit in den Mund, verschlingt sie es nicht nur, sie
						deutet es zugleich aus, hat ihm »das Los gelesen«. Wirklichkeit, gefangen in
						der Sprache und durch die Sprache, ist ein Akt des Schreckens – wie jede
						Verwandlung mit einem Schmerz verbunden –, aber auch im selben Augenblick ein
						religiöser Akt, es ist jenes »Denkt um!«, das den Hörern froher Botschaft im
						Neuen Testament zugeworfen wird. Die dreizeiligen Strophen, die Albrecht
						bevorzugt, suggerieren zudem die Dreifaltigkeit der Sprache: halluzinatorisch,
						erhellend, spielerisch – letztes ein musikalisches Element und für Harsdörffer
						wie für Albrecht von entscheidender Bedeutung, wie andere Gedichte des Bands
						schon in den Titeln, etwa »Ricercar« oder »Opera in musica«, zeigen.
						
						Am Ende vollzieht sich im Gedicht selbst die Wandlung.
						Fangschrecke und Satz bzw. Wort werden eins: »anbetend-beugend-bindend«, ein
						Dreischritt und dreifacher Lobpreis der Funktion der Poesie. Metaphorisch und »präzisonistisch«
						führt das Gedicht vor, wie Dichtung entsteht, und hebt den Unterschied zwischen
						Fleischwerdung und Wortwerdung auf. Am Anfang war das Wort, am Ende wird das
						Wort sein, und es umschließt heute die ganze Welt des Fleisches – in einem
						geistigen Akt, der seine Gewaltsamkeit durch Zärtlichkeit tarnt. Jean-Henri
						Fabre kommt am Schluß seiner Betrachtung über die Mantis zu der Festellung:
						»Sie bringt uns wieder zum uralten Symbol der Schlange, die sich in den Schwanz
						beißt. Die Welt ist ein endloser Kreis: Alles endet, damit alles wieder
						beginnt; alles stirbt, damit alles lebt.« Doch selbst ihn durchfuhr beim
						Anblick der beim Geschlechtsakt tötenden Mantis ein existenzieller Schrecken,
						von dem er sich nicht erholen konnte; Harald Albrecht zwingt uns mit seinen
						Gedichten, dennoch genau hinzuschauen.
								 
 
