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Hans Thill: Der heisere Anarchimedes

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Michael Braun

Hans Thill: Der heisere Anarchimedes. Gedichte. Verlag Poetenladen, Leipzig 2020. 112 Seiten, 18,80 Euro.

Look like Bakunin

Gedichte von Hans Thill  -  Selbstporträt als „heiserer Anarchimedes“


Wenn man den Dichter und Übersetzer Hans Thill nach seinem Verhältnis zu den Jahreszeiten befragt, antwortet er umgehend mit einem Plädoyer für den „Linguistikherbst“, eine legendäre Erfindung seines 2006 verstorbenen Dichterkollegen Oskar Pastior. Der „Linguistikherbst“ war für den großen Sprachzauberer Pastior das lyrische Passwort zu einem virtuosen Spiel mit den Lautähnlichkeiten von Wörtern („O-Ton: »Automne« - Linguistikherbst“),, das unglaublich viele Haken schlägt und sich schließlich in einen furiosen Vokabel-Tanz steigert. Hans Thill hat nun einem der insgesamt sieben Kapitel seines neuen fabelhaften Gedichtbands den Titel „Linguistikherbst“ gegeben. Und er entfaltet darin ein elegantes Sprachspiel um die einzelnen Monate des Jahres und pendelt dann zwischen dem „grüblerischen Januar“, dem „gestiefelten April“ und dem November mit seinen „Nächten aus Milch“ hin und her. Ganz nach Art der historischen Revolutionäre, die einst den „9. Thermidor“ und ihren „republikanischen Kalender“ etablierten. Freilich bringt der Dichter jede Festlegung zum Einsturz und erfindet lieber neue flirrende Porträts der verschiedenen Monate – so wie es seinem surrealistischen Temperament gemäß ist.

Denn wir dürfen uns den 1954 in Baden-Baden geborenen Dichter als einen Nachfahren der französischen Surrealisten vorstellen. Wie einst die experimentierfreudigen Avantgardisten rechnet sich auch Hans Thill zu den „lautlichen Leuten“. Und er folgt dabei dem Erz-Surrealisten André Breton, der einst notierte: „Still. Ich will, wo keiner noch hindurchgegangen ist, hindurchgehen, still! - Nach Ihnen, liebste Sprache.“ Auch bei Hans Thill hat die Sprache den Vortritt. Seine Poesie macht viele Sprünge, sie zersprengt das scheinhaft Homogene, lockert die Kohärenz, aus seinen Versen flattern allerlei überraschende Bildkombinationen auf. „Der Rhapsode in mir rät: schön unregelmäßig schreiben!“, hat er einmal in einem Essay verkündet. Der Rhapsode (vom griechischen „rhaptein“, aneinandernähen, zusammenflicken) ist in Thills neuem Buch ein glücklicher Sprach- und Diskurs-Mischer, der gleichermaßen aus den Sprachen des Alltags schöpft wie aus den lyrischen Stimmen des Barock und den Kapriolen des Dadaismus.

Der „heisere Anarchimedes“, den der Titel des Gedichtbands aufruft, ist dabei eine Mischfigur aus dem antiken Mathematiker Archimedes und dem freiheitsliebenden Anarchisten Michail Bakunin. Von Archimedes borgt sich Thill dabei eine ausgeprägte Vorliebe für Zahlen, die in den Gedichten nicht nur Abschnitte markieren, sondern selbst Bedeutungsträger sind. Innerhalb dieser eigenwilligen Abzählreime blitzen immer wieder fantastische kleine Geschichten auf. Etwa in einem „Schwachhauser Kampflied“: „Die Hubschrauber, die Hiob nicht/ aufnahmen, / uns werden sie finden.“ Von den Anarchisten Bakunin und Krapotkin gewinnt Thill dagegen die Befreiungsenergien, die er für sein spektakuläres Zeremoniell mit den Wörtern braucht. Weitere Begleiter des heiteren poetischen Anarchisten Thill sind seine drei lyrischen Wappentiere: der Hund, das Pferd und die Wespe. Sie fungieren hier als Schutzgeister und leiten uns durch ein poetisches Universum der Überraschungen. Manchmal mit einem provokativen Rückgriff auf Reizwörter, wie im Gedicht „Look like Bakunin“: „Bakunin, ein Fädchen an der Oberlippe. / Kontrolle des Bartes, / der Augen, der Zungenspitze (Sardellen). / Er nährt sich vom Holz der Barrikaden/ wie die Wespen von / Guantanamo.“ In diesem fantastischen und auch in der Ausstattung exzellenten Gedichtbuch findet man keinen einzigen abgenutzten, durch übermäßigen Gebrauch tauben Vers, alles wirkt ungemein frisch und konsequent „gegen die Leserichtung, mit der gerechnet wird“ (Pastior) gesetzt. Das fulminanteste Gedicht im „heiseren Anarchimedes“ ist das Schluss-Poem, eine sprachverrückte Litanei von biografischen Erzählmustern und furiosen Bildfindungen, die an den Vater und an die Mutter des lyrischen Ichs adressiert ist: „Mein Vater war Schmalhans,/ ein Laubsäger im Herbst. Er trug sein kariertes/ Hemd, die Knochen standen vor. Mein Vater war Knacker, / Kreidler, ein Ingenieur. Er hängte / den Faden meiner Mutter zum Trocknen auf./ Meine Mutter, eine Harbenick, Suckfüll. Mein Vater, ein Natterer. Meine Mutter war/ Mundschmiedin, geschmeidige Samtsoße. Mein Vater war ein Klotz.“ In diesen Gedichten spricht ein Sprachbegeisterter, für den die Poesie realisierte Freiheit ist. Ein Dichter, der uns ins Offene führt.


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