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Hans Thill: Das Buch der Dörfer

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Jan Kuhlbrodt


Über die Dörfer

zu Hans Thill


Wie soll man über ein Buch sprechen, das nicht endet? Ein Buch, das auch nicht beginnt. Das im Grunde einfach und plötzlich da ist. Man fängt nicht an, man steigt ein in die Lektüre, im Grunde verhält man sich wie ein Fallschirmspringer, der über einem ihm unbekanntem Gebiet abgeworfen wird und zu laufen beginnt, kaum dass er  den Boden berührt.

Das Buch der Dörfer heißt der Band von Hans Thill, der gerade im Verlag Matthes & Seitz erschienen ist, und er enthält auf 163 Seiten vier Abschnitte, die in jeweils sechs Kapitel gegliedert sind. Mir erscheint diese Bemerkung wichtig, weil sie auf einen meiner Meinung nach zentralen Punkt verweist.
Das Anarchische der Fortbewegungsweise des Textes, seine permanenten Bewegungs- und Tempowechsel gefrieren gewissermaßen erst im Inhaltsverzeichnis zu einer Ordnung, und das Verzeichnis selbst ließe sich als Listengedicht lesen. Das fiel mir auf, als ich nach der ersten Lektüre auf dieses Verzeichnis stieß, ich war noch vollkommen wirr im Kopf von der ständig wechselnden Umgebung, dass mir diese Kargheit der Liste fast wie ein Wunder vorkam.


Es nimmt also eine Ordnung auf, die sich im Buch angekündigt hatte, aber in ihrem eigenen Prinzip auf wunderbare Weise verlor. Die Kapitel nämlich sind noch jeweils in eine unregelmäßige Anzahl von Abschnitten gegliedert und jeder beginnt mit der Wendung: DAS NÄCHSTE DORF.
Thill zelebriert hier auf literarischem Weg so etwas wie die Fraktaltheorie, dass sich die Struktur des ganzen nämlich in seinen einzelnen Elementen reproduziert. Diese Gebilde oder Muster besitzen im Allgemeinen keine ganzzahlige Hausdorff-Dimension (ein mathematischer Begriff, der in vielen üblichen geometrischen Fällen bekannte ganzzahlige Werte liefert), sondern eine gebrochene – daher der Name – und weisen zudem einen hohen Grad von Skaleninvarianz bzw. Selbstähnlichkeit auf.

Und merkwürdiger Weise wird die Theorie, die dem Fraktalen zugrunde liegt, Zufallstheorie genannt. Man könnte annehmen, Zufall und Ordnung wären etwas sich Ausschließendes.

Und so bewege ich mich auch durch Thills Text zunächst wie durch ein Labyrinth. Die ersten Versuche, den Text in der vom Buch vorgegebenen Anordnung zu lesen, gingen fehl. Mit dem Daumen als Zufallsgenerator schlug ich den Text an einer beliebigen Stelle auf.


DAS NÄCHSTE DORF lag sprachlos neben der Nachbargemeinde, es war eine Konkurrenz zwischen oben und unten, und wer die glänzende Pfanne besaß. Alles ging gut, solange der Reis sich unterm Wasser verbarg. Ist man einmal drin, zittern die Löffel. Wir kamen am Tag der Erwartung. Wir sahen noch die Vögel von unten und welche Figuren ihnen vertraut waren. Wir hätten es deuten müssen, aber alles stand bereits im Koran. Wir schöpften ein wenig, schon zeigte sich der Reis, etwas gelb an den Zähnen, zutraulich wie ein Schwein.

Wunderbar, wie sich hier die Bezüge vermischen, und wie Sprache die Banalität der Produktwerbung in Erhabenheit auffängt. Mag sein, dass die Postmoderne hier zu sich selbst kommt, als Konglomerat aus Tensid und Industrie.

Also gut. Das Buch zum zweiten Mal gelesen, zum zweiten Mal über die Dörfer gezogen, wie wir das als Jugendliche taten, weil bei uns in der Stadt nix los war. Das hat sich verändert und die Dörfer erweitern den Referenzraum. Thills Band ist ein wahres Referenzfeuerwerk, und ich gab bald auf, den Ursprüngen der Schemen nachzuspüren. Zuweilen enthüllen sie sich von ganz allein, zuweilen bleiben sie Ahnung, dass da etwas ist. Eine Anwesenheit. Dieses Buch also ist ein Gang über Land. Durch eine zersiedelte Gegend. Kein Ort scheint unberührt. Und die Überschriften der einzelnen Kapitel suggerieren eine Ordnung, fädeln die Dörfer gewissermaßen nach Farbe auf die Schnur des Gehenden.

Ein großartiges Leseerlebnis.



Hans Thill: Das Buch der Dörfer. Berlin (Matthes & Seitz) 2014. 163 Seiten. 19,90 Euro.

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