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Hannes Bajohr: Halbzeug

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen


Timo Brandt

Cause we’re writing in a material world


„um alle themen herum
um bäume im feld herum
um chemnitz herum
um deutschland und bayern herum
um europa herum
um folgende tatsache herum“
           
Wir wollen an Zusammenhänge, an Kontexte glauben. Daran, dass letztlich jedes Stück Wirklichkeit sich in eine (dafür geschaffene) Ordnung fügt, untergebracht und eingeordnet werden kann. Und dass die Dinge in einem festgelegten Rahmen Sinn ergeben, dass Bezüge die Sinnhaftigkeit herstellen, sichern.  

Poesie sprengt oftmals diese Rahmen, ist aber selbst natürlich wiederum ein Rahmen. In der Sprache (aus der Poesie nun einmal besteht) liegt etwas Willkürliches, das bekommen Dichter*innen früher oder später zu spüren: beim Grübeln über das richtige Wort, die passende Formulierung – oder wenn einem wieder einmal bewusst wird, dass dasselbe Sprachmaterial, das man für seine Gedichte verwendet, an anderer Stelle bspw. für esoterische Gebrauchstexte verwendet wird. Die Frage, was gesagt und wie es verstanden werden kann, wird in jedem Gedicht neu aufgeworfen. Und Gedichte sind nicht unbedingt der Entwurf einer Antwort, mehr ein zusätzliches Material, auf das sich die Frage berufen kann.

Wie random ist dichterisches Sprechen, wie zwingend und offenbar wirkt die arrangierte Hierarchie eines Gedichts? Generiert stundenlanges Ausformulieren, Auswählen und Schöpfen (mit der Maschine Gehirn) einen Text mit mehr Sinnhaftigkeit und Anknüpfungspunkten, als die Arbeit mit zufälligem Sprachmaterial? Was ist, wenn man dieselben Worte, mit denen ein als bedeutend geltendes Gedicht geschrieben wurde, durcheinandermischt oder auf andere Art verfremdet – steckt dann im Ergebnis noch etwas von dem, was den Ursprungstext ausgemacht hat? Ist nicht das Übersetzen eines lyrischen Textes eine ebensolche Aktion? Jorge Luis Borges gab in einem seiner Essays zu bedenken, dass die Übersetzung eines Gedichtes letztlich als eine weitere Version desselben gesehen werden könnte, gleichberechtig neben allen Versionen stehend, die das Gedicht bisher durchlaufen habe, bis der Tod des/r Verfassers/in einen scheinbaren Schlusspunkt dahinter setzt. Wieviel Bedeutung kommt dem Material zu?    

„Sie müssen jede Gelegenheit ergreifen, Arbeitgebern den Beweis zu liefern.
Sie müssen ihn davon überzeugen, dass sie das gesuchte 3G-Mindset besitzen.
Sie müssen im Job ja nicht mit jedem befreundet sein, mit dem Sie arbeiten.
Sie müssen kein Hypernetzwerker sein, um ein Meister des Netzwerks zu werden.“
       
Hannes Bajohrs Gedichtband ist eine Auseinandersetzung mit der Materialität von Gedichten und der Poetik des Materials. Ein Werk, das viele Spuren verfolgt und vieles, was die literarische Moderne durchgespielt hat, aufgreift, remixed, weiterdenkt und eine Kombination aus spielerischen Ansätzen und einer breiten, überzeugenden und anschaulichen Palette von ernstzunehmenden Ergebnissen zustande bringt.
 
Der erste und umfangreichste Teil „in corpore“ arbeitet mit größeren Textkorpora, bspw. ausgewählten Werken von Autor*innen, den gesammelten Klimaschutzgebieten des Bundes-ministeriums für Umwelt und, bei einer gemeinsamen Arbeit mit Gregor Weichbrodt als „oxoa“, mit den Inhalten von 7000 Profilen heterosexueller, männlicher Nutzer von der Online-Dating-Plattform Parship. Bei diesem Text („Über mich selbst“, auch erschienen in der Edit 70) wurden durch ein Script alle mit „ich bin“ begonnenen Sätze aus den Profilbeschreibungen extrahiert und, in einer Auswahl, als Fließtext und zugleich Aretalogie arrangiert; die einzelnen Sätze durch zufällig ausgewählte Konjunktionen miteinander verbunden. Aus den Klimaschutzberichten wiederum extrahierte Bajohr Genitivkonstruktionen, ordnete einige davon alphabetisch untereinander in Gedichtform an, was einen schönen und gleichsam unheimlichen Sing-Sang ergibt.

„die einhaltung der ziele
die erhöhung des anteils
die erholung der wirtschaft
die förderung der errichtung
die formel der werte
die gesamtmenge der zuteilung“
          
Natürlich haben solche Arbeiten immer einen entlarvenden Touch. Man kann anhand von ihnen einem bestimmten Sprachmaterial, einem bestimmten Kontextmaterial ganz neu begegnen; in den arrangierten Ausdrucksaspekten spiegeln sich Dynamiken, Absichten und Ideen des Materials und seines Kontextes auf eine bestimmte Art wieder.
 
Es gibt Texte und Ausgangsmaterialien, die in dieser Hinsicht ergiebiger sind, so scheint mir. Zum Beispiel fand ich die Texte, die german.literotica.com als Materialsammelstelle benutzten weniger interessant und reizvoll.
 
Im zweiten Teil „automatengedichte“ geht es um das Auseinandernehmen und Neuarrangieren von bereits konsistenten Texten. Bajohr hat hier Gebrauchstexte, klassische Gedichte und auch eigene Gedichte durch ein PHP-Skript gejagt, dann wieder manuell zusammengesetzt und z.T. gekürzt.
    Können so Gedichte entstehen, die mehr ausdrücken und verkörpern als die Faszination für den Materialcharakter der Sprache? In jedem Fall haben Bajohrs Texte mir gezeigt, dass ich überall nach Kontexten, nach Anknüpfungspunkten und Strukturen suche, auch in einem random generierten Text. Was mich zu der Überlegung führt: Ist es nicht egal, ob ein Text durch zufällige Generierung oder durch Komposition entstanden ist (in der auch eine Zufälligkeit, zumindest eine Willkürlichkeit liegt, letztendlich), weil es auf den Lesevorgang ankommt, der prinzipiell in einem Text nach irgendeiner Form von Bedeutung sucht?    

„das linoleum glimmt wie ein
letztes bedeutsames mirakel

ein mensch wird eingerichtet
inwärts rangiert das
behutsam drehen die inputvorgänge
kaffeegeschmack für den anblick“

„nachts liegen auf
hochwürgenden möglichkeiten
sie verschweigen“
                     
Es ist ein bisschen schade, dass unter den Texten immer sofort die Quelltexte und die Methode zur Generierung und Zusammensetzung des Materials angegeben sind. Man wird dadurch meiner Ansicht nach dazu verleitet, zunächst dort nachzuschauen und nicht den Text als Erstes auf sich wirken zu lassen. Was spricht dagegen, frage ich mich, alle diese Angaben in einem gut strukturierten Anhang zu sammeln und somit zwei Leseerlebnisse zu ermöglichen?
 
Es folgen noch die Kapitel „maschinensprache“ (in dem mit Voice-Applications gearbeitet wird) und „in den reader für das eleventum“, in welchem bei einigen bekannten Gedichten der deutschen Nachkriegsliteratur jedes Wort durch Synonyme ersetzt wurde. Als Beispiel der Anfang von Erich Frieds „Bevor ich sterbe“ (bei Bajohr ist das Original nicht mit abgedruckt).

„Einst ich vollende                             Bevor ich sterbe

Noch einmal sprechen                        Auch später plaudern
von der Wärme des Lebens                von der Sonnenglut des Pulses
damit doch einige wissen:                  darauf sogar eine Handvoll durchschaut:
Es ist nicht warm,                               Es ist keineswegs gütig
aber es könnte warm sein.                  aber es könnte gütig heißen“
               
Bajohrs Buch macht, alles in allem, Spaß und regt an zur Auseinandersetzung mit der Materialität von Dichtung, Sprache, Ausdruck. Es juckt einem danach in den Fingern, selbst eine paar der vorgestellten Verfahren auszuprobieren. Auch die Möglichkeiten der Materialbeschaffung, die sich aus den riesigen Textkorpora des Internets ergeben, erscheinen danach reizvoller denn je. Wie heißt es in den nachgestellten „Notizen zur Arsenalerweiterung“:

„Das Unding ist das Digitale. An ihm ist zu arbeiten.“
   
So let’s be workers, poets.


Hannes Bajohr: Halbzeug. Textverarbeitung. Berlin (Suhrkamp) 2018. 109. Seiten. 16,00 Euro.
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