Hallgrímur Helgason: Wir schießen mit Stecknadeln
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Foto © Einar Falur Ingólfsson
Hallgrímur Helgason
Wir schießen mit Stecknadeln
(Zwei Gedichte aus: VIÐ SKJÓTUM TÍTUPRJÓNUM / WIR SCHIESSEN MIT STECKNADELN, JPV Útgáfa, Reykjavík 2020)
Aus dem Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
WIR SCHIESSEN MIT STECKNADELN
I
Wir schießen mit Stecknadeln
da wo wir müde hingestreckt liegen
und sind nicht schärfer als so
Sie spritzen von uns ab zu Hunderten an der Zahl
glitzernde Eisenwolken die an die Decke geschleudert werden
und als silbriger Regen herunterfallen
Ein Teil von ihnen landet auf dem Bett
das meiste auf dem Boden
aber einige Nadeln sind unten im weißen
und runden Stoffkronleuchter von IKEA stecken geblieben
Zwergenspeere in der Sohle des Drachen
II
Wir schießen mit Stecknadeln
Sie sind das was wir haben
da wo wir liegen
angeschlagen adventlich abgesagt
und mariniert in machtloser Lust zu rebellieren
oben auf einem kriegsgeschwollenen Jahr
voller Flüchtlinge und Massenproteste
Fußballgeselligkeit und faschistischer Aufmärsche
Wahlniederlagen und Diktaturtendenzen
Olympiade und Panama-Skandale
Lesbos und Lampedusa
Gaza und Guzmán
Orlando Berlin Brüssel Istanbul Nizza
Erdogan Brexit Putin und Trump
und tausender in Flammen stehender Wohnungen in Aleppo
Alton Sterling und Philando Castile
Korryn Gaines und Terence Crutcher
Keith Lamont Scott und Alfred Olango
Brandi Bledsoe und Qandeel Baloch
Natsumi Kogawa und Delta Meghwal
Marichuy Jaimes und Gisela Mota
und dreitausend anderer Mexikanerinnen
die ermordet wurden weil sie Frauen waren
Oben auf dem Ganzen da liegen wir
auf einer ausladenden federnden Hüpfburgmatratze
vollgestopft mit Bombenwolken in schwarz und gelb
und schießen mit Stecknadeln
XI
Rußspuren am Himmel
ausgeflogene Bläue
Gewissensbisse auf einer Gabel
Und kleine schwarze Zombies beim
Frostwatscheln über den Hügel
mit Kappe und Kapuze
streichen sie durch die Stadt auf der
Suche nach Bildfutter
sie gehen schlaff und äußerst langsam
eingepackt in Kleidung und eigenem
Fett
wie Kindergartenkinder in Fäustlingen
mit zwei Daumen
in der Dunkelheit des Winters und dem
Knarren des Bürgersteigs
Sie kommen aus Calgary Gent und
Guangzhou
Bristol und Bandung
und möchten noch eine
Bergþórugata* zu sich nehmen bevor die Batterie
leer ist
und sich für ein Foto küssen
im Schneegestöber vor Drekinn, dem
Fast-Food-Lokal
Sie wollen sehen dass wir sie sehen
und sich selbst sehen für alle
sichtbar
ins Netz gestellt
Das Elfenvolk der Konjunktur
übernachtet an unserer Brust
isst aus unserem Kühlschrank
entblößt sich vor den Gemälden
entblößt sich vor den Gemälden
und zeichnet sein Drama auf eine
Matratze
Wir ziehen währenddessen aus
zur Mama zur Oma und ins Sommerhaus
den alten Bauernhof der aufgegeben
wurde
während des Nordlichtmangels im
letzten Jahrhundert
* Straße im Zentrum Reykjavíks in der Nähe der Hallgrímskirche
Hallgrímur
Helgason ist ein isländischer Schriftsteller und
Künstler, Dichter und politischer Aktivist, geboren 1959. Er studierte an der
Akademie der Bildenden Künste in München und begann seine künstlerische
Karriere zunächst als Maler - mit bis heute über 30 Einzelausstellungen im In-
und Ausland. 1990 debütierte er als Romanautor mit dem Roman Hella und
hat seitdem elf Romane veröffentlicht. Davon wurden sieben ins Deutsche
übersetzt, am bekanntesten sind Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit
dem Abwasch zu beginnen, Eine Frau bei 1000° und 60 Kilo
Sonnenschein. In seiner Heimat hat Hallgrímur Helgasón eine Sammlung seiner
frühen Gedichte (1978-1998) und in den letzten fünf Jahren vier weitere Gedichtbände
veröffentlicht. Við skjótum títuprjónum / Wir schießen mit Stecknadeln,
ein Zyklus zweiundzwanzig globaler Frustrationsgedichte, wurde 2020 veröffentlicht.
Eine Aufnahme des Zyklus, bei der der Dichter die Texte mit Unterstützung des
Lokalhelden-Schlagzeugers Doddi rezitierte, wurde im November 2020 im RÚV, dem
nationalen öffentlichen Fernsehsender Islands, ausgestrahlt. Hallgrímur Helgason
hat klassische, in Versen gefasste Komödien und Dramen übersetzt, wie Tartuffe
von Moliere sowie Romeo und Julia und Othello von Shakespeare.
Zwei seiner Romane wurden verfilmt, fünf wurden auf die Bühne gebracht (u.a. in
Salzburg und Köln); drei Mal wurden seine Bücher für den Nordischen
Literaturpreis nominiert. Den isländischen Literaturpreis hat Hallgrímur Helgason
bereits drei Mal gewonnen, in den Jahren 2001 und 2018 sowie aktuell mit seinem
2021 erschienenen Roman Sextíu kíló af kjaftshöggum / Sechzig Kilo Ohrfeigen.
Außerdem ist er 2020 mit der französischen Medaille Officer de l'ordre des
arts et des lettres ausgezeichnet worden. Er lebt in Reykjavik.