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Halla Þórlaug Óskarsdóttir: Jede Geschichte ist kariert

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Halla Þórlaug Óskarsdóttir

Jede Geschichte ist kariert

Auszug aus dem 1. Kapitel von Þagnarbindindi / Schweigegelübde, Benedikt Bókaútgáfa, Reykjavík 2022

Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer


Wir sind alle naiv
bis wir Einsicht erlangen
und die ist meistens nicht umsonst.

Jede Geschichte ist kariert.

Wir kennen die Tage, an denen der Wunsch regiert,
etwas zu erschaffen; Lachen, Umarmungen und Rotwein.
Und dann sind da die Tage, an denen die Realität
wie eine zusammengerollte Zeitung auf uns niedersaust,
uns zerquetscht und die Flügel zerknüllt.
Die Tage, an denen die Sonne scheint, aber es interessiert uns  
nicht. Die Liebe lebt, aber es interessiert uns nicht.

Es gibt Kapitel über Mütter und es gibt Kapitel über Töchter.
Kapitel über Frauen und über dich.
Zwischen all diesen Kapiteln sind Zäsuren,
und womöglich befindet sich dort der größte Schmerz.

Ich gehe die Treppe hinauf. Es liegt Schnee auf den Stufen
und Eis in den Ecken. Die Klingel ist defekt, also klopfe ich
an die Tür. Ich sehe deine Silhouette näherkommen,
du machst mir die Tür langsam auf.
In den Händen halte ich ein kleines Paket, das ich mir
schon lange vorgenommen habe, dir zurückzugeben.
Und jetzt, als ich es dir überreiche, weiß ich,
dass dies der Abschied ist. Der Augenblick, bevor ich es
loslasse und du das Paket entgegennimmst,
ist lang wie eine Ewigkeit. Du legst es zur Seite und wir
verabschieden uns, möglicherweise für immer.
„Einmal drücken?“

Während ich dich umarme und das Parfüm einatme,
das ich so gut kenne – vielleicht allzu gut –
denke ich nicht an die Träume, über die wir gesprochen haben,
nicht an unsere Reisepläne in ferne Länder.
Nicht an die Zukunft, die es geben sollte.

Ich denke nicht an unser Zuhause, das nun kalt
und leer steht, dort ist kein Zuhause mehr.
Ich denke nicht an den Kaufmann an der Ecke
bei unserer Wohnung, damals in Berlin,
der angeboten hat, uns eines Tages zu vermählen,
nicht an deine Marotten beim Frühstück,
die Reiskörner auf dem Küchenboden, braune Bananen
in einer Schüssel, nicht an die Magermilch im Kühlschrank,
nicht an den Kaffeering auf einem weißen Küchentisch.

Ich denke
nicht
daran, wie du im Schlaf gelacht hast
und wie du im Schlaf geweint hast
und wie du mich nachts geweckt hast, wenn du schlecht träumtest,
und mich gebeten hast, dich in den Arm zu nehmen. Und ich denke
nicht daran, wie ich dich in den Arm genommen habe und
wie meine Knie in deine Kniekehlen passten, dein Po hochgestreckt
zu meinem Bauch, und wie du meine Hände genommen
und nah an deine Brust gehalten hast
oder wie du heimlich deine Hände unter meinen Pulli
geschoben hast, wenn du aus der Kälte kamst und ich
denke
nicht
an die Autofahrt nach Stykkishólmur, als wir nur eine CD
dabeihatten, wie wir sie bis zum Anschlag aufgedreht und alle Lieder
lautstark mitgesungen haben, immer und immer wieder, wie
du dich derart schlapp gelacht hast,
dass du beinah von der Fahrbahn abgekommen wärst,
ich denke nicht
an den Tag, als wir Brandur, den Kater, nachts
auf dem alten Friedhof beerdigt haben, nur wir zwei, weil wir
meinten, dass er es verdient habe,
die Weihnachtsbeleuchtung in der Adventszeit zu sehen,
und wir hofften, dass jemand auf seinem Grab ein Licht
anzünden würde – auch sei es auch nur aus Versehen.

Ich
denke
nicht daran, wie du morgens die Gurke mit einem Käsehobel
geschnitten, sodann das Knäckebrot mit hauchdünnen Scheiben
bedeckt und den Kaffee kalt aus der Untertasse geschlürft hast
– so wie deine Uroma es dir beigebracht hat –  
oder wie du immer daran gedacht hast, meine Kaffeetasse
mit kochendem Wasser vorzuwärmen, bevor du den Kaffee
eingeschenkt hast, weil du wusstest, dass ich den Kaffee
gern heiß trinke, obwohl du es nicht verstehen konntest.
Ich denke nicht daran.
Ich denke nicht an unser erstes Weihnachten und ich denke nicht
an unser letztes Weihnachten.
Ich denke nicht an unseren verbrannten Weihnachtsbraten,
damals, als wir in Kopenhagen wohnten
und keinen Menschen kannten, und uns am Ende entschlossen,
eine vegetarische Frikadelle aus dem Gefrierfach zu essen,
die so ausgezeichnet zu dem überteuerten Rotwein
aus dem Duty-Free Shop passte, den wir eigens für diesen Tag
aufgehoben hatten, und du dich dann entschieden hast,
Vegetarierin zu werden, und ich gesagt habe,
ein Missgeschick am Anfang verspricht eine erfolgreiche Reise,
Prost auf eine glänzende Zukunft –

Ich denke nicht an das erste Mal, als ich dir gesagt habe,
dass ich dich liebe, und ich versuche,
mich nicht daran zu erinnern, wann du es das letzte Mal
gesagt hast.

Nein, an all das denke ich nicht.

Ich halte dich einfach umschlungen, flüstere dir ein Geheimnis ins Ohr,
in das rechte, weil du mit dem linken besser hörst, drücke
dich an mich und sage
tschüss.


Halla Þórlaug Óskarsdóttir wurde 1988 geboren. Sie hat einen BA-Abschluss in bildender Kunst und einen MA-Abschluss in kreativem Schreiben. Seit 2012 arbeitet sie im Kultur-bereich als Künstlerin, Autorin, Produzentin, Kritikerin und Reporterin in verschiedenen Medien, die längste Zeit als Radiomoderatorin bei RÚV, dem öffentlichen isländischen Rundfunk.
Ihr Gedichtband Þagnarbindindi / Schweigegelübde wurde 2021 mit dem Poesiepreis Maístjarnan / Der Maistern, einem der höchsten Literaturpreise Islands für eine Lyrikband, ausgezeichnet. Ihre veröffentlichten Arbeiten umfassen Artikel in Zeitungen, Literatur-zeitschriften und Online-Plattformen sowie Radiobeiträge, Hörspiele und Bühnenwerke, die von anderen, aber auch von ihr selbst aufgeführt werden, wie Are you here? eine fort-laufende gemeinsame Recherche, die sie mit ihrer Freundin aus Kindertagen, der Tänzerin und Choreografin Ásrún Magnúsdóttir, durchführt. Halla Þórlaug Óskarsdóttir lebt in Reykjavík.
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