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Håkan Sandell: Wo unsere Flüsse zusammenfließen

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Foto: Johan Jönsson
Håkan Sandell

Wo unsere Flüsse zusammenfließen

übersetzt von Klaus Anders


Aus Buch I
I:1

                                        „Dunstbänder -, Spruchbänder“ / Celan

Von den Rauchbändern:
die Schlagworte aus Schnee,
ich vermisste Programme
jenseits der Überlebenden

im Raum zwischen den
Gewissheiten der Übrigen.
Von Zukunftsbändern:
ein vielversprechendes Morgen

von gestern, heute wiederholt.
Auf den Seidenbändern
stehen Liebesworte, wohlgeformt,
lang und schwer auszusprechen,



I:2

die Wächter vor dem Tor verschwunden,
nun steht die Kultur klaffend weit offen.
Numinose Unendlichkeitszeichen erheben
uns gleich denen der Leuchtreklamen im Dunkeln.

Natur findet vielleicht einen Sinn im Tod,
dessen Winter eher ein taktischer Rückzug.
Erde malt sich die Lippen weiß mit Schnee,
der Schnee bemalt mit schwarzer Erde die Lippen,

jetzt, da die Sonne gerade wiederkommt,
steigt über verschlossenen Höfen, Ackerstreifen.
Insgesamt scheint diese Sache wert zu trauern,
heißt es; Dämmerung, die Rose, Beginn,



I:3

nach der Schicksalswahl mehr von dieser Art.
Über Wahlplakaten, Schmierereien, Graffiti.
Nach dem Fall Roms repariert man die Mauer.
Klimaschmelze, die Bootsleute folgen der Küste.

Auf der anderen Seite die Liebe, wieder dich selbst.
Ist der Sturm vorbei, deckt man die Dächer neu.
Unter stillem Verfall geht das Business weiter.
Nach einem spektakulären Selbstmord, Alltag.

Am Auferstehungstag Regen, keiner kam.
Nach dem Untergang schleichende Frühlingsblüte.
Prophetien verworfen, Fehler gesetzt in Fußnoten.
Das Orakel stirbt, auf dem Dreifuß folgt die Tochter,



I:4

mit blauem Haar unter Kopfhörern, jetzt
grün verblasst, ein Band aus flutendem Seegras.
Für uns, die hier draußen langsam ertrinken,
Reihe von Happy Hours Blindfassaden,

siehst du aus, als teiltest du die Geheimnisse
Eingeweihter mit Unwürdigen, denen sie aus
Händen auf die Regenstraße glitten, wo du suchst.
Betrachtet auf dem Fensterblech von nassen Tauben,

die den Abend über das Viertel spannten
bis zu den Tauben auf der anderen Seite, gesehen
nur vom Boot der Mondsichel hinter Wolken.
Für dich, eine von so vielen, an der ich vorbeiging,



I:5

gibt es keine Information, die dich rettet.
Keinen guten Rat, den du noch erinnern kannst.
Keine Formel, die sagt locken oder lösen,
kann dich befreien, und kein düsteres Cello,

dem du lauschst an einem Abend.
Kein Engel, kein Abendmahlskelch
und kein Hexenopfer an Kreuzwegen.
Kein Dunkel, das Sterne umrundet,

Keine Glaubenszeichen in vier Himmelszügen.
Kein Entgegenkommen kann dich retten.
Kein tiefer Wald, keine heilsame Quelle,
kein heilendes Kraut. Anders als in dir


I:6

ist die Kälte vorbei, und dunkelblaue Luft
streckt ihre weichen Sammetfahnen
vom Gräberfeld zum Flussabhang,
schnell erwidert vom hochdankbaren Norden.

Voller Einsatz, Wagners Nibelungen,
wo neue Jugend in nur kurzer Zeit
mit feuchten Augen und weitem Aufschlag
vorbeizieht in Wunschwolken Marihuana.

Phantom der Oper, wie unser Poet
gesehen wird in einer kleinen Blattkolumne,
verspürt erneut das Schwanboot steigen,
reines Wasser strömt durch die Kloaken,



I:7

der Abendstern ruht Wange an Wange
mit dem Morgenstern, gleich genäht
sind Stoff und Fetzen, Chaos eingefangen
von Geometrie, das Schlachttier ist erneut

draußen in Freiheit auf grüner Weide.
Die Kunst, so lange Zeit prostituiert,
wird den Heimweg finden. Liebe kann,
neu verspürt, so unverdient sich wenden

aus dem, was dir historische Ebbe schien.
Doch musste gefunden werden als Variation,
möglich gemacht durch kühler Gene Stränge,
Musik, versteckt, unbeliebt, aus schönster Quelle,



I:8

ein Magier, kaum wohl beständig,
Großteil der Zeit war Durststrecke.
Zu den Inselfesten keine Einladung mehr.
Graffiti/Vogelgesang kämpfen dazwischen

um Raum, andererseits waren auf-
gemalte Symbole, die stehen blieben,
etwas übertrieben. Schwierig rauszufinden,
wo die Wurzeln liegen könnten, falls bei mir.

Vergangene Sommer werden mit dem Wort
Sommer zu deiner grünlaubigen Zeit hier.
Der Schatten Verliebter ist größer geworden.
In meinen Zeichen liest du dich selbst,


Håkan Sandell, geb. 1962 in Västra Skrävlinge, heute Stadtteil von Malmö, stellte sich schon früh gegen die in Schweden dominante politisierende Lyrik der 70er und 80er Jahre. Er gehörte einer heterogenen Gruppe junger Malmöer Künstler an, die sich vom Punkrock und dem dänischen Dichter Michael Strunge (1958 – 1986) inspirieren ließen. In den 90er Jahren verfasste Sandell gemeinsam mit Clemens Altgård die Broschüre Über Retrogardismus. Sie forderten eine Poesie, die sich mit traditionellen Kunstformen auseinandersetzt und sie weiterentwickelt, anstatt sie blind zu verwerfen. Die Gruppe löste sich 1993 auf. Sandell ließ sich in Oslo nieder, wo er heute noch lebt. Er veröffentlichte eine Reihe von Gedichtbänden, trat als Übersetzer hervor (u.a. Jelena Schwarz), war und ist beteiligt an der inzwischen eingestellten Zeitschrift Aorta und dem Blog Retrogarde.org, nicht zuletzt Herausgeber von Anthologien, so auch Von Nordenflycht bis Tranströmer / Schwedische Lyrik, Edition Rugerup, Berlin – und er ist ein profunder Kenner europäischer Poesie. Auf Deutsch erschien ein Band mit Gedichten von Sandell in der Edition Rugerup: Tagebuch, Abendwolken.

In seinem jüngsten Gedichtband Wo unsere Flüsse zusammenfließen (Där våre floder rinnar samman), der mit den hier publizierten acht Gedichten beginnt, zeigt Sandell eine Poesie, die sich zwischen dem Realistisch-Alltäglichen und poetischer Reflexion bewegt.

„Alles geht weiter, trotz Krieg, Katastrophe und Verfall. (...) Sandell umgeht die Binsen-weisheiten und macht es den Lesern möglich, die andere Seite der Münze zu sehen:

Ist der Sturm vorbei, deckt man die Dächer neu.
Unter stillem Verfall geht das Business weiter.
Nach einem spektakulären Selbstmord, Alltag.“ (Erik Bovin im Online-Magazin „Opulens“)

Der Band ist unterteilt in drei Bücher zu je zwanzig Gedichten, zuletzt ein einzelnes Gedicht, betitelt Coda. Die Texte der einzelnen Bücher formal einheitlich: im ersten Buch dreistrophige Vierzeiler, im zweiten Buch Episteln, im dritten eine Sonettvariante. Alle Gedichte gehen ineinander über, jedes endet mit einem Komma, nur das letzte, die Coda, mit einem Punkt. Ein langes Selbstgespräch, ein visionäres Fresko in kalten und warmen Farben.

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