Gyrðir Elíasson: Fünf Gedichte
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Foto: Nökkvi Elíasson
Gyrðir
Elíasson
Fünf
Gedichte
(Aus:
DRAUMSTOL / TRAUMBESTOHLEN Verlag Dimma, Reykjavík 2020)
Aus dem
Isländischen übertragen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
TRAUMBESTOHLEN
Ich habe
aufgehört, mich an meine Träume zu erinnern.
Ich erinnere
mich, geträumt zu haben
und ob ich
gut geträumt habe
oder
schlecht, aber ich erinnere mich nicht,
was es
war.
Die Nächte
sind traumlos geworden,
und
dennoch voller Träume.
Tagsüber träume
ich davon,
wegzugehen.
Egal wohin.
Nur weg
von diesem Drang,
weggehen
zu müssen
FLAMMENSCHEIN
Wir legen
Feuer an die Häuser,
sie
brennen wie Stroh in der Abenddämmerung,
während wir
dastehen und
zusehen.
Das sind unsere Häuser, und
doch
irgendwie nicht unsere
Wohnsitze,
nicht mehr. Wir schauen
einander
an, obdachlos und
schweigend,
bevor wir noch einmal aufbrechen
zum
Ursprung hin–
hinein ins
Flammenmeer
FLIESSEN
Mein
Gedächtnis leckt.
Dunkel
fließende Bilder
rinnen
hinab in einen kalten
See des
Geistes
Sie verbreiten
sich
über die
Fläche wie schwarze
Wasserlilien
URSPRUNG
Ein blaues
Bett,
eine graue
Wand,
ein
Sonnenstrahl fällt
durchs
Fenster, fällt auf
das
schlafende Kind im
Bett
Draußen
wartet
geduldig
auf es
die Welt,
knurrt
leise
ANGSTBÖGEN
Die Angst
der Blätter im Herbst –
sie sind blass
und
zittern im Wind
Aber
vielleicht ist es der
Herbstwind
selbst der
den Herbst
am meisten
fürchtet –
am meisten
von allen?
Gyrðir Elíasson, geb. 1961 in Reykjavík, wuchs in Sauðárkrókur im
Nordwesten Islands auf, lebte einige Zeit in Borgarnes und Akranes, später aber
in Reykjavík, wo er an der Pädagogischen Hochschule studierte. Fast sein ganzes
Erwachsenenleben lang arbeitet er bereits als freier Schriftsteller und
veröffentlicht Gedichtbände, Romane und Sammlungen mit Erzählungen und
Kurzgeschichten. Auch als Übersetzer ist er tätig, u.a. von Büchern über und
von amerikanischen Ureinwohnern sowie Romanen des amerikanischen
Schriftstellers Richard Brautigan. Für sein Werk wurde der Autor mehrfach
ausgezeichnet, u.a. im Jahr 2000 mit dem Isländischen Literaturpreis und 2011
mit dem Literaturpreis des Nordischen Rates. Seine Arbeiten wurden in mehrere
Sprachen übersetzt und publiziert, so auch in Deutschland. Hier erschienen neben
mehreren Veröffentlichungen von Gedichten und Kurzgeschichten in der
Literaturzeitschrift die horen u.a. Das Blueshorn (Tregahornið,
1993), Münster, Kleinheinrich, 2001, Ein Eichhörnchen auf Wanderschaft (Gangandi
íkorni, 1987), Zürich, Walde+Graf, 2011, Am Sandfluss. Pastoralsonate
(Sandárbókin. Pastoral-sónata, 2007), Zürich, Walde+Graf, 2011 sowie Einige
allgemeine Worte über die Erkaltung der Sonne (Isländisch/Deutsch) (Nokkur
almenn orð um kulnun sólar, 2009): Münster: Kleinheinrich, 2011.
Gyrðir Elíasson lebt in Reykjavík, ist verheiratet und hat drei Töchter.