Gustav Meyrink: Das verdunstete Gehirn
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Gustav Meyrink
Das verdunstete Gehirn
Dem Schuster Voigt in
Ehrfurcht gewidmet
Hiram Witt war ein
Geistesriese und als Denker gewaltiger und tiefsinniger noch als Parmenides.
Offenbar, – denn über seine Werke sprach überhaupt nicht ein
einziger Europäer.
Daß es ihm schon vor
zwanzig Jahren gelungen war, aus animalischen Zellen unter dem Einfluß des
magnetischen Feldes und durch mechanische Rotation vollständig ausgebildete
Gehirne auf Glasplatten wachsen zu lassen, – Gehirne, die, nach allem zu
schließen, sogar selbständig zu denken vermochten, – hatte zwar hie und da in
Zeitungen gestanden, – wissenschaftliches, tieferes Interesse aber hatte es
nicht geweckt.
Derlei Dinge passen auch
gar nicht in unsere Zeit. Und dann, – was sollte man in Deutsch sprechenden
Ländern mit selbständig denkenden Gehirnen?!
Als Hiram Witt noch jung
und ehrgeizig war, hatte er fast jede Woche ein oder zwei der von ihm mühsam
erzeugte Gehirne in die großen wissenschaftlichen Institute geschickt, – man
möge sie prüfen, – sich äußern über sie! Das war denn auch gewissenhaft
geschehen; – der Wahrheit die Ehre.
Man hatte die Dinger in
gläsernen Dosen warm gestellt, ihnen sogar von dem berühmten Gymnasialprofessor
Aurelian Fließpapier gründliche Vorträge über Häckels Welträtsel halten lassen
– auf die Einmischung einer hohen Persönlichkeit hin natürlich –, aber die
Resultate waren derart unerfreulicher Natur gewesen, daß man von weiteren
Bildungsversuchen abzusehen sich fast gezwungen sah. Man denke nur: schon bei
Einleitung des Vortrages waren die meisten Gehirne unter lautem Knall geplatzt,
andere wieder hatten ein paarmal wild gezuckt, waren alsbald
unauffällig krepiert und hatten dann gräßlich gestunken.
Ja, eines sogar, ein
starkes lachsfarbenes Exemplar, soll sich blitzschnell umgedreht, seine
gläserne Dose gesprengt haben und die Wand hinaufgeklettert sein.
Und was der große
Chirurg Professor Wasenmeister über die Gehirne gesagt hatte, war auch recht
abfällig gewesen.
»Ja, wenn es noch
Blinddärme waren, die man herausschneiden könnte«, hatte er gesagt, – »aber
Gehirne! In Gehirnen gibt es doch gar keine Blinddärme.«
Die neue Erfindung war
damit abgetan. – –
Das ist jetzt Jahre her.
Hiram Witt hat seitdem
Gehirne nur noch an den Restaurateur Kempinski geliefert, – fünfzig Prozent
billiger als die Metzger der Stadt – und mit dem Erlös sein Leben und die
Kosten neuer Versuche bestritten.
Eines Tages nun saß er
wieder einmal in seinem Studierzimmer, Schnedderedengsstraße Nr. 8 im dritten
Stock, regungslos wie ein Steinbild, vor einer Glasscheibe, die sich in
stählernen Achsensystemen mit so rasender Schnelle drehte, daß sie nur noch
einem matt leuchtenden Nebel glich.
Die ganze Nacht hatte er
bei dem Experimente zugebracht und mit starrem Auge den Verlauf beobachtet.
Wissen die verborgenen
Kräfte der Natur den Zeitpunkt gekommen, wo sie ihr Geheimnis der Willkür des
Menschen preisgeben müssen, so verschließen sie eifersüchtig mit unsichtbaren
Händen die Pforten seiner Sinne vor dem Außen und verraten im kaum
vernehmlichen Flüstertone der Seele den verborgenen Pflanzort ihres Wesens,
ihren Namen und wie sie gerufen sein wollen und wie man sie bannt; sie hassen
die müßigen Horcher, die an den Schwellen des Bewußtseins lungernden Gedanken,
und da darf kein Mitwisser sein. In solchen Augenblicken überfällt uns ein
fremdartiges, lauerndes Wachsein der Innenwelt, und es ist, als hämmere sich
der Puls einen neuen ungewohnten Rhythmus. Als hätte
der Atem sein eigenes Leben vergessen, drängt sich eine andere als die grobe
atmosphärische Luft – ein unbekanntes, unwägbares Flüssiges – heran, unser Blut
zu ernähren.
So schien seit
Mitternacht Hiram Witt – ohne Atem, fast ohne Herzschlag – nichts anderes mehr
wahrzunehmen, als die schimmernde gläserne Scheibe, die vor ihm – ein aus
seinem Körper ausgetretener stoffgewordener Gedanke – surrend um ihre Achse
wirbelte.
Die hallenden,
langgestreckten Töne, die nächtlich eine schlummernde Stadt durchziehen, wie
einsam fliegende Eulen, trafen sein Ohr nicht.
Und die schattenhaften
Arme des Schlafdämons, wie er um die zweite und fünfte Stunde leise, leise aus
dem Boden wächst, – hinter Schränken und Türen hervor hinter die Wachenden
huscht, mit flaumweichen schwarzen Riesenhänden nach den noch glimmenden Funken
des Bewußtseins der Wesen zu schlagen, – glitten machtlos an ihm ab.
Der tappende Morgen ging
an ihm vorbei, die Sonne schob das zwergenhafte Licht seiner Lampe beiseite, –
er fühlte es nicht und wußte es nicht.
Unten auf der belebten
Straße die schrillenden Pfeifen und das klingende Spiel der Soldaten, die –
goldbeknopft – vor sich das symbolische Ochsenhorn, die Stadt durchzogen, er
hörte es nicht.
Es wurde zwölf Uhr, und
die Mittagsglocken fielen brüllend über das kläffende Gassengelärm her, da
endlich zuckte Hiram Witts Hand in die schwirrenden Räder und brachte das
Getriebe zum Stehen.
In einer Mulde der
Glasscheibe war jetzt ein kleines menschliches Gehirn sichtbar und an ihm, –
wie sich der Gelehrte mit einem hastigen Blick überzeugte, – ein winziger
Nervenansatz, – der Beginn, der Keim – eines Rückenmarkes!
Hiram Witt taumelte vor
Erregung.
Da! Da!
Gefunden, – endlich
hatte er es gefunden, – das letzte fehlende Glied in der Kette: Mathematische,
rein gedankliche Größen die Achsen des Weltalls! Nichts sonst!
Kein Rest, kein Kern
mehr, um den sich die Eigenschaften scharen, bloß Gleichgewicht-gebärende
Zahlen; – und ihr Verhältnis zueinander allein des Lebens einzige Wurzel. –
Sichtbarkeit, Greifbarkeit, Schwere, – wie sie verschwinden! Wie Rechenfehler
verschwinden! –
Gehirn verhält sich zu
Rückenmark, wie die Schwerkraft zur Zentrifugalen. Das war des letzten Rätsels
Lösung.
Ja, ja, wer richtig es
begreift und die simplen Handgriffe kennt, der kann es auch sichtbar machen und
fühlbar, – »stofflich«, wie es die Tölpel nennen.
Hiram Witt sah ganz
verstört um sich, – die Brandung seiner Gedanken, die sein Inneres
durchbrausten, – verwirrte ihn.
Er mußte sich
orientieren, wo er eigentlich sei, und beinahe wäre er heftig erschrocken, als
sein Blick auf den nackten menschlichen Körper fiel – gegenüber an der Wand, –
den er mühsam durch volle zwanzig Jahre aus winzigen Zellen großgezogen, – wie
man einen Gummibaum großzieht, – und der nun als erwachsenes, bewußtloses
Geschöpf vor ihm stand. Hiram lächelte froh: »Auch eine meiner überflüssigen Arbeiten!
Wozu überhaupt einen
Körper bauen?
Kann ich nur Gehirn und
Rückenmark hervorbringen, was soll mir da noch solcher Betätigungsplunder?«
Und wie der wilde Jäger
ruhelos mit seinen gespenstischen Hunden vorwärts rast, so stürmte seine Seele
mit krausen Gedanken in eine phantastische Zukunft, wo er Weltenkörper aus dem
Reiche des Seins werde schwinden machen können, wie ein Divisor Zahlenmassen
zerstört.
Ein hundertstimmiges
Hurra von der Straße herauf zerriß die Luft, Hiram
Witt öffnete schnell das Fenster und blickte hinaus:
Ein Strolch mit einer
Soldatenmütze und ein Pavian in Offiziersuniform waren in einer Droschke
vorgefahren und musterten – umstanden von einer begeisterten Menge und einem
Halbkreis in Ehrfurcht versunkener Schutzleute – die Fassade des Hauses.
– Und gleich darauf
begannen die beiden, der Affe voran, den Blitzableiter hinaufzuklettern, bis
sie im ersten Stock anlangten, die Scheiben zerschlugen und einstiegen.
Einige Minuten später
warfen sie Kleider, Möbel und einige Handkoffer durch das Fenster auf die
Straße hinab, erschienen dann wieder auf dem Sims und setzten ihre Kletterei
zum zweiten Stock fort, wo sich dasselbe Schauspiel wiederholte.
Hiram Witt begriff
sofort, was ihm bevorstand, und suchte rasch in seinen Taschen zusammen, was er
an Geld und Goldeswert besaß.
Im selben Augenblick
schwangen sich der Affe und der Strolch auch schon über die Fensterbrüstung ins
Zimmer.
– – – »Ich bin«, sagte
der Strolch, »ich bin ...«
»Ja, ja, ich weiß, Herr
Hauptmann, Sie sind der Gauner, der gestern das Rathaus von Köpenick erobert
hat«, fiel ihm der Gelehrte in die Rede.
– Eine Sekunde nur war
der Strolch sprachlos, dann wies er stolz auf das buntgefärbte Hinterteil des
Pavians und sagte: »Dieser Herr in Uniform ist meine Legitimation, äh.«
»Wahrlich, das Gesäß,
man überschätzt es heutzutage allzusehr«, dachte Hiram Witt und reichte
schlicht 4 Mark 50 Pfennig, eine Uhrkette aus Silber und drei goldene
ausgefallene Zahnplomben hin: »Das ist alles, was ich für Sie tun kann.«
Der Strolch wickelte die
Beute sorgsam in Papier, steckte sie in die Tasche und schrie: »Schweinehund!
Äh! Hacken zuu–samm'!« – –
Und während Hiram Witt
gehorsam Folge leistete, schwangen sich der Pavian und der Strolch in
würdevoller Haltung aus dem Fenster. – –
Unten ertönte das Hurra
der Schutzleute, als man der Uniformen abermals ansichtig wurde.
Traurig setzte sich der
Gelehrte wieder an seinen Experimentiertisch: »Da heißt es schnell sechs
Gehirne für Kempinski fertig zu machen, um den Schaden wieder einzubringen.
Übrigens halt, eines, scheint mir, ist noch von gestern übrig.«
Und er holte unter dem
Bett einen Teller mit einem prächtigen lebenden Gehirn hervor und stellte ihn
auf den Tisch. Setzte die Glasscheibe in Bewegung und wollte eben die Arbeit
beginnen, da klopfte es energisch und gleichzeitig erschütterte dumpfes,
mächtiges Dröhnen das Haus.
Hiram Witt stieß wütend
seinen Sessel zurück.
»Kommt man heute denn
gar nicht zur Ruhe!«
Da wurde die Türe
aufgerissen, und im Stechschritt marschierte ein Off'ßier, gefolgt von einigen
Kanonieren, ins Zimmer:
Ȁh! Sie sind der
Jehirnfatzke Hiram Witt?! Äh! – Schweinehund! Stillje–stann'! Hände an die
Hosennaht!«
Gehorsam richtete Hiram
Witt sich auf, fuhr mit den Händen zuerst unschlüssig am Körper herum und
steckte sie dann, – wie plötzlich erleuchtet, – zwischen seine Beine. Der
Off'ßier zog die Schnauze schief:
»Äh! Kerl, verrückt
jeworden! Hosennaht, äh, Hosennaht.«
»Pardon, meine Hosen
sind nämlich innen genäht; ich bin nicht Reserveleutnant; ich weiß nicht,
welche Hosennaht Sie meinen«, antwortete unsicher der Gelehrte.
»Was wünschen Sie denn
überhaupt von mir«, wollte er weiter sprechen, »der Herr Hauptmann aus dem
Rathaus war doch soeben hier; oder sollten gar Sie der Schuster Voigt aus
Köpenick sein?« – aber der Off'ßier unterbrach ihn: »Hier! Äh! Lejitimatziong.«
Und Hiram Witt las:
Lejitimatziong
Ick bestätije hiemit
auf Off'ßiersehrenwort, daß ick Hauptmann Fritz Schnipfer Edler von Zechprell
bin.
gez. Fritz Schnipfer von Zechprell
Hptm. Jarde Re'ment 1000
Hptm. Jarde Re'ment 1000
und erkannte auf den ersten Blick an der
Handschrift, daß der Schreiber sich im ersten Stadium der Gehirnparalyse
befinde. Er machte dem Off'ßier eine tiefe Verbeugung.
Unterdessen waren die
rhythmischen Stöße, die das Haus erschütterten, immer näher gekommen, und
schließlich schob eine Kanone neugierig ihr rundes Maul zur Türe herein.
Das war aber eigentlich
überflüssig, denn der Gelehrte legte sowieso nicht die geringsten Zweifel mehr
an den Tag, und als dem Hauptmann bei einer Handbewegung gar ein Zettel aus der
Tasche fiel, auf dem deutlich zu lesen ein Rezept über Zinksulfat stand, wurden
Hiram Witts Mienen nur noch überzeugter.
Ȁh, Jehirnfatzke Witt,
sechzig Jahre alt, Beruf: Individuum, wohnhaft Schnedderedengstraße 8, Sie
erzeugen seit zwanzig Jahren künstliche Menschen, – wa?« inquirierte der
Off'ßier, nahm seinen Helm ab und stülpte ihn achtlos über das Gehirn, das auf
dem Tische lag.
Der Gelehrte verbeugte
sich zustimmend.
»Wo sind se?« fragte der
Off'ßier weiter.
Hiram Witt zeigte auf
den nackten Menschen ohne Hirn, der an der Wand lehnte.
»Is er zum Militärdienst
jemeldet?«
Der Gelehrte verneinte
befremdet.
»Flichtvajessna
Schweinehund!« brüllte der Off'ßier und gab seinen Kanonieren ein Zeichen,
worauf diese sofort die Wohnung auszuräumen begannen und Stühle, Betten, Kleider, Apparate und schließlich auch den künstlichen
Menschen aus dem Zimmer trugen.
»Wollen wir ihm nicht
das Gehirn einfüllen, wenn er schon zum Militär soll?« fragte Hiram Witt
resigniert und hob, obwohl der Off'ßier verächtlich verneinte, den Helm vom
Teller ab.
Was sich da nun zeigte,
war derart überraschend und unheimlich, daß dem Gelehrten der Helm aus der Hand
fiel. Das Gehirn, das sich darunter befunden, war nicht mehr vorhanden, und an
seiner Stelle lag – – an seiner Stelle lag – ein Maul!
Ja, ja, ein Maul.
Ein schiefes Maul mit
eckig aufwärts gebogenem Schnurrbart.
Hiram Witt starrte
entsetzt auf den Teller.
Ein wüster Hexentanz
begann in seinem Schädel.
So schnell also
verwandelt der Einfluß eines Helmes ein Gehirn in ein Maul!!
Oder liegt die Ursache
anderswo?
Hat vielleicht die
scharfe metallene Helmspitze eine Art galoppierende Verdunstung eingeleitet?
So, wie z. B. der
Blitzableiter ein Ausströmen der Erdelektrizität begünstigt!?
Hat die Polizei
vielleicht deshalb Kugeln auf den Helmspitzen, um solche Verdunstungen
aufzuhalten? Aber nein, denn dann hätte man die Folgen doch schon bemerken
müssen. – Bemerken müssen. – – Bemerken müssen
– – – – – Der Bürgermeister von Köpenick
– – – – – – Ein Pavian – – – – –
Null dividiert durch Null gibt eins. Hilfe, Hilfe, der Wahnsinn. Hilfe, ich
werde verrückt. – –
Und Hiram Witt schrie
gellend auf, drehte sich einigemal um sich selbst und fiel dann lang hin. Aufs
Gesicht.
Der Off'ßier, die
Mannschaft und die Kanone waren längst fort. Die Wohnung leer. – In der Ecke
kauerte Hiram Witt, ein blödsinniges Lächeln auf den Lippen, und zählte rastlos an seinen Knöpfen ab: »Hauptmann Zechprell,
Schuster Voigt, Schuster Voigt, Hauptmann Zechprell, echt, unecht, echt,
unecht, Zinksulfat, echt, Gehirnerwechung, Hauptmann Zechprell, Schuster
Voigt.«
Schließlich steckte man
den Ärmsten ins Irrenhaus, aber sein Wahnsinn läßt nicht nach: – an stillen
Sonntagen kann man ihn singen hören:
»Von der Maas bis an die Me–he–mel,
Von der Etsch bis an den Belt,
Deutschland, Deutschland, üü–ber
a–ha–lles, Über alles in der Welt.«