Guðrún Hannesdóttir: "das rauschen" und zwei weitere Gedichte
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Guðrún Hannesdóttir
das rauschen und
zwei weitere Gedichte
(Aus: Kallfæri / In Rufweite, Verlag DIMMA, Reykjavík
2024)
Aus dem Isländischen von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer
das rauschen
im wechsel
klettern die berge
hoch bei licht
sinken hinab
im dunkeln
die wasser strömen leise
bei nacht und tag
schafspuren kämmen
den hang
früher ging hier viel gespenstisches um
trolle, treu und relativ harmlos
kleine unholde und monster
der mönch Colum Cille
und andere missverständnisse
elfen die sich in bunten
farben zeigten, lebendige hoffnung
fetzen aus ihrem gesang
die helden der geschichten
geisterten abends
durch die wohn-schlafstube
füllten die schlimmste stille aus
und die schwere des mangels an menschen
nun ist nicht mehr viel übrig
von dem einnehmenden rauschen
nur eine tiefgreifende
einsamkeit
ein kaum merkliches
summen
die dunkelheit
da war eine art dunkelheit
fern von dem einerlei
das nun schwer über uns liegt
sie hatte geraschel und gemurmel in sich
den schatten einer stricknadel
seufzer und schwaches licht
dort brodelten ausgefallene geschichten
von nie gekannten menschen von wundern
trost trauer und vergeltung
diese dunkelheit gab sich bescheiden
nicht weniger als die alten gottesfürchtigen frauen
doch möglicherweise ist sie dem traumschlaf
der zugvögel nicht ganz unähnlich
darin zeigen sich gelegentlich blitze
vielfarbigen heimwehs
während der dunkelsten wintertage
wörter
schön wie die pflanzen
die entdecker einst
in unbekannten ländern fanden und mit sich brachten
man musste sie mit größter vorsicht verlesen
pressen und aufbewahren mit behutsamkeit
einige benutzen korrekturfahnen
von John Miltons Das verlorene Paradies
um sie dazwischen zu legen und
umwickelten sie mit starker schnur
sie legten eine schwere last darauf
damit ihre stärke und anmut
bis zum ziel erhalten bliebe
Guðrún Hannesdóttir, geboren 1944, studierte Kunstgeschichte an der
Universität von Lund und Bibliothekswissenschaft an der Universität Islands und
arbeitete jahrelang als Bibliothekarin. Ihr erstes Buch Gamlar vísur handa
nýjum börnum / Alte Verse für neue Kinder wurde 1994 veröffentlicht;
in ihm, als einem ersten von drei solchen Büchern, versammelte und illustrierte
sie volkstümliche Verse für Kinder. Seitdem hat sie weitere Kinderbücher
veröffentlicht und dafür zahlreiche Auszeichnungen und Anerkennungen erhalten,
u.a. den isländische Kinderbuchpreis.
2007 erhielt Guðrún Hannesdóttir für das Gedicht Offors
/ Gewalttätigkeit den Jón úr Vör-Poesiepreis und im selben Jahr
erschien ihr erster Gedichtband, Fléttur / Flechten. Der
Gedichtband Humátt / Hinterher wurde 2016 für den Fjöruverslaun,
den Strandpreis nominiert. Ihre Werke wurden in großem Umfang
veröffentlicht, die Zahl der Gedichtbände beträgt mittlerweile ein Dutzend.
Darüber hinaus arbeitet Guðrún Hannesdóttir als Über-setzerin, auf diesem Feld
ihrer Tätigkeit erhielt sie 2021 den isländischen Übersetzerpreis für den Roman
Hinter der Tür der ungarischen Schriftstellerin Mögda Szabó.
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