Gunnar Sohn: Raumforderungen – Vom gelebten Abschied und der Einmaligkeit des Lebens
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Gunnar Sohn
Raumforderungen
–
Vom gelebten Abschied und der Einmaligkeit des Lebens
Es war ein nachdenklicher Abend in Bonn-Duisdorf,
und doch einer, der nachhallte wie das Dröhnen eines Baggers hinter einer
dünnen Wand aus Zeit.
Willi Achten, ein zweites Mal zu Gast in unserer Gesprächsreihe, sprach über
seinen neuen Roman Die Einmaligkeit des Lebens, erschienen im Piper
Verlag.
Er sprach von Brüdern, von Heimat, von der Schönheit und Zerbrechlichkeit der
Welt. Und er sprach von Raumforderungen – innen wie außen.
Schon früh im Gespräch wurde deutlich, wie sehr
dieser Roman aus persönlicher Erfahrung gespeist ist.
„Ich musste den Erzählraum öffnen“, sagte Achten, „musste die unmittelbare
Trauer in Literatur überführen.“
So entstanden Simon und Vinzenz Brougen – zwei Brüder, eng verbunden seit
Kindertagen, geworfen in eine Welt, die ihnen langsam unter den Füßen
zerbricht.
Vinzenz und Simon: Brüderlichkeit unter dem Druck
der Zeit
1988, das „Spieljahr“, wie Achten es nennt,
bildet die erste Zeitschicht des Romans.
Simon, impulsiv, verliebt, zerreißt in einer unbedachten Bewegung den
Judas-Kopf vom Altar der Dorfkirche.
Ein Judas, der Kriege, Verwüstungen, den Einmarsch Napoleons und den Zweiten
Weltkrieg überstanden hatte – aber nicht die zittrige Hand eines Jungen,
geblendet von der Sehnsucht nach Nähe.
Es ist Vinzenz, der ruhig bleibt, der flickt, der
schützt.
„Er war immer der Ruhigere, der Besonnenere“, sagte Achten.
Und so entsteht früh jenes Band, das später, als die Zeichen der Zerstörung
deutlicher werden, auf eine neue Probe gestellt wird.
2017 kehrt Vinzenz zurück in ein Kirschrath, das
längst an der Abbruchkante liegt.
Nur noch wenige hundert Meter trennen das Dorf von den Baggern des Tagebaus.
Und auch in Vinzenz' Körper kündigt sich eine unaufhaltsame Raumforderung an:
Ein Glioblastom.
Zuerst ein Stolpern beim Joggen.
Dann der erste epileptische Anfall – „eine Sensation“, wie die Ärzte sagen, ein
frühes Signal der schweren Krankheit.
„Es war mir wichtig, diese frühen, leisen Zeichen
sichtbar zu machen“, erklärte Achten, „nicht erst die Katastrophe zu erzählen,
sondern die Vorboten.“
Martha: Nähe in zwei Zeiten
Zwischen den Brüdern steht Martha – damals wie
heute.
1988 die ferne, bewunderte Tochter des Bestatters, der Mittelpunkt von Simons
ersten tastenden Liebesgefühlen.
„Seine Finger waren zu verliebt, um stillzuhalten“, so Achten lächelnd über den
Judasbruch.
2017 aber wird Martha zur stillen Gefährtin.
Nicht als sentimentale Liebesfigur, sondern als jemand, der Nähe anders
definiert: als Aushalten, als leises Dasein.
Eine Szene bleibt:
Martha, die Simon die Hand auf den Rücken legt, ihr Weinen spürbar nur in der
Bewegung ihrer Atemzüge.
„Diese Szene war mir sehr wichtig“, sagte Achten. „Sie zeigt, was wahre
Verbundenheit ist: Schmerz teilen, ohne ihn zu erklären.“
Die doppelte Raumforderung: Landschaft und Körper
Der Begriff der Raumforderung trägt den Roman.
Im medizinischen Bericht steht er nüchtern für den Tumor, der Vinzenz' Gehirn
bedrängt.
Im Dorf aber wuchert eine zweite Raumforderung: die schleichende Vernichtung
von Land, Häusern, Erinnerungen durch den Braunkohlabbau.
„Das war das Scharnier des Romans“, so Achten.
„Innen und außen, Körper und Landschaft – beides wird angegriffen, beides soll
verschwinden.“
Und auch die Kirche, die einst Heimat und
Rückgrat war, versagte.
Mancherorts verkaufte sie früh ihr Land an RWE, „mit Dank für die
zukunftsorientierte Haltung“, wie es Achten trocken zitiert.
Nur wenige Laiengruppen stemmten sich, mit gelben Holzkreuzen, gegen den
Ausverkauf der Schöpfung.
Der Willi Achten-Sound
Im Gespräch betonte Paul Remmel, dass Achtens
Roman trotz aller Traurigkeit keinen falschen Ton anschlägt.
Es gibt ihn tatsächlich, den „Willi-Achten-Sound“:
Eine Mischung aus Klarheit und Wärme, Ernst und Leichtigkeit, die nicht in die
Falle der Rührseligkeit tappt.
„Ich habe vieles gestrichen“, sagte Achten,
„alles, was zu viel gesagt hätte. Die Figuren müssen atmen dürfen.“
Die Szenen sind fast filmisch gebaut – kurze Kapitel, szenisch dicht, jedes mit
einem kleinen Höhepunkt, aber nie aufgesetzt.
Auch die Sprache trägt:
Schlicht, rhythmisch, getragen von einer Art stiller Musik, die manchmal erst
beim zweiten Lesen hörbar wird.
Erinnerungsarbeit als Akt der Liebe
Was bleibt?
Vielleicht dieser eine Satz, den Simon am Ende denkt:
„Solange ich bin, ist Vinzenz nicht vergessen.“
In Bonn-Duisdorf, an diesem Abend, schien genau
das spürbar:
Dass Literatur Erinnerung bewahren kann.
Dass Trauer nicht überwunden werden muss.
Und dass das Schreiben – in Achtens Worten – nichts anderes ist als ein
„Bleiben bei dem, was vergeht.“
https://www.youtube.com/live/N3HgcnwFCaw?si=rnSK_nVo1k0e2t5c
Willi Achten: Die Einmaligkeit des Lebens. Roman. München (Piper Verlag) 2025. 224 Seiten. 24,00 Euro.
