Gunnar Sohn: Michael Krüger und die verschwundene Lyrik
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Gunnar Sohn
Michael Krüger und die
verschwundene Lyrik
Am Dienstag, dem 25.
November 2025, war die Bonner Buchhandlung Böttger voll. Nicht „gut besucht“,
sondern schlicht: voll. Für einen Abend sah es so aus, als sei die alte
Selbstbeschreibung vom „Land der Dichter und Denker“ noch einmal in Kraft
gesetzt – allerdings auf engstem Raum, mit bescheidenen Mitteln und einem
Thema, das im offiziellen Kulturbetrieb fast nicht mehr vorkommt: Lyrik.
Michael Krüger stellte
sein neues Buch „Unter Dichtern“ vor, und von der ersten Minute an war
klar: Hier spricht einer, der sein Leben buchstäblich in Verszeilen verbracht
hat. Als Buchhändler und Drucker ausgebildet, als Lektor, Verleger, Herausgeber
der Akzente, als Juror in zahllosen Gremien, als Nachrufschreiber für tote
Dichter – vor allem aber als Leser von Gedichten.
Der Ton des Abends war
entsprechend: keine Thesen über „Literatur im Allgemeinen“, sondern eine
beharrliche Rückkehr zur Poesie – als Lebensform, als Risiko, als hartnäckige
Randerscheinung in einer Prosa-Gesellschaft.
„Das Dichten, das ist
nichts mehr“
Krüger begann mit einer
Szene, die man in jedem beliebigen Wohnzimmer der Republik nachspielen könnte:
Ein Kind eröffnet seinem Vater, es wolle Dichter werden. Die Antwort ist
absehbar: Ob es nicht „irgendetwas Anständiges“ lernen könne. Die Pointe des Abends
war, dass Krüger diesen Satz nicht empört, sondern mit müder Heiterkeit
zitierte – als Diagnose dessen, was aus der poetischen Tradition des Landes
geworden ist.
Er erinnerte daran, dass
große Verlage wie Rowohlt mit Gedichtbänden angefangen haben und heute in ihren
Vorschauen kaum noch ein Lyriktitel auftaucht. Und er sprach über eine
literarische Fernsehsendung, die seit Jahrzehnten Bücher verhandelt, ohne je einen
Gedichtband zu besprechen – als wäre Poesie ein Sondermüll, für den sich kein
Sendeplatz findet.
Wenn Krüger dann trocken
ergänzt, Dichter besäßen in dieser Gesellschaft „weder Autorität noch Ruhm noch
einen Stand in der Welt“, klingt das nicht wie larmoyante Klage, sondern wie
das Ergebnis eines langen Berufslebens mit genau dieser Randexistenz.
Demütigungen als
Berufsroutine
„Warum nimmt jemand die
schrecklichsten Demütigungen in Kauf, um Dichter zu sein?“ – diese Frage
benennt Krüger im Buch wie im Vortrag als Ausgangspunkt seiner Erinnerungen.
Eine seiner
Lieblingsdemütigungen erzählte er in Bonn noch einmal: Der polnische Lyriker
Tadeusz Różewicz füllt im Münchner Hotel das Formular aus, trägt bei „Beruf“
pflichtbewusst „Dichter“ ein – und hört vom Portier: „Dann müssen Sie aber im
Voraus bezahlen.“ Der Dichter als Kreditrisiko; seine Berufsbezeichnung
funktioniert wie ein Warnhinweis.
Diese Szene wäre eine
Randnotiz, wäre sie nicht so exemplarisch. Sie steht neben all den anderen
Formen des Übersehens, die Krüger auflistet: Preisjurys, die Lyriker
jahrzehntelang ignorieren; Akademien, die sie nicht aufnehmen;
Fernsehsendungen, die sie nicht einladen. Der „unsolide Mensch“ (Wolfgang
Bächler über sich selbst) wird zur heimlichen Leitfigur eines Berufs, der
keinen gesellschaftlichen Platz mehr hat – außer dem, den sich einzelne Leser,
Verleger und Buchhändler für ihn freihalten.
Günter Eich: „Das sind
schon zwei“
Zur Lage der Lyrik griff
Krüger nicht zu einer eigenen Formel, sondern zu einem Gedicht von Günter
Eich. Dessen lakonische Bilanz der Reichweite lautet:
In Saloniki weiß ich einen, der mich liest,und in Bad Nauheim.Das sind schon zwei.
Man könnte die Ortsnamen
austauschen – Bonn für Saloniki, irgendeine andere Kleinstadt für Bad Nauheim –
und der Satz bliebe gültig. Lyrik, so zeigt dieser Vers, rechnet nicht in
Auflagen, sondern in Einzelnen. Zwei Leser in der Welt sind schon eine kleine
Statistik.
In der Bonner
Buchhandlung bekam dieser Satz eine besondere Färbung: Ein volles Haus lauscht
einem Mann, der mit spürbarer Selbstverständlichkeit davon ausgeht, dass
Gedichte nur wenige erreichen – und der doch keine Minute daran zweifeln lässt,
dass diese wenigen reichen.
Fuchs, Bächler, Pastior
– Existenzen im Versmaß
Der Abend in Bonn war
reich an Namen, aber im Zentrum standen die Lyriker, deren Biographien man
heute eher aus Fußnoten kennt.
Günter Bruno Fuchs, der „Koloss“ aus
Berlin-Wilmersdorf, war einer von ihnen. Krüger schilderte ihn als Körper aus
Übermaß – zu groß, zu durstig, zu widerspenstig für die feinen Sitten des
Betriebs. Seine Reise nach München, die in einer alkoholgetränkten
Speisewagen-liturgie beginnt, endet in verwechselten Schlüsseln, falschen Betten
und vollgelaufenen Hotelrechnungen. Es ist nicht schwer, in diesem Körper eine
Metapher für die Lyrik selbst zu sehen: sperrig, nicht normgerecht,
raumgreifend, ständig an der Grenze zur Peinlichkeit.
Wolfgang Bächler, Mitbegründer der
Gruppe 47, erscheint als Gegenfigur: zart, verwundet, von manisch-depressiven
Schüben zersetzt. In dem fingierten Brief an eine Akademie, den Krüger aus
„Unter Dichtern“ vorlas, zählt Bächler penibel die Nicht-Ereignisse seiner
Karriere auf: keine Preise, keine Bauchbinden, kein Podium neben
Bürgermeistergattinnen, kein Scheck aus Händen von Kulturdezernenten.
Stattdessen: ein Leben als „Lyriker ohne viel Publikum“, als „unsolider,
unordentlicher Mensch“, dessen dunkler Anzug nur zu Beerdigungen gebraucht
wird.
Dass dieser Dichter
trotz Benns Lob, trotz früher Erfolge systematisch aus den Listen rutschte, ist
bei Krüger kein Aufreger, sondern ein Symptom: Lyrik als Kunstform, die nicht
nur im Markt, sondern auch in den institutionellen Formen des Ruhms keinen Halt
mehr findet.
Oskar Pastior schließlich steht für
jene Dichter, die buchstäblich in den Wohnungen ihrer Freunde wohnen – mit
Klappbett, Rauch und einer Sprache, die zugleich verspielt und verstörend ist.
Aus dem Gast wird eine Dauerpräsenz. Der Dichter verlässt die Wohnung nicht; die
Lyrik verlässt das Leben nicht. Sie wohnt, ob man will oder nicht, zwischen
Möbeln, Telefonaten, Zigarettenstummeln.
Danilo Kiš und die
„Enzyklopädie der Toten“ – ein Modell für die Poesie
Einer der poetologischen
Kerne des Abends war Krügers Bezug auf Danilo Kiš und dessen Erzählung
Die Enzyklopädie der Toten. In einem unterirdischen Archiv in Stockholm werden
dort die Lebensläufe all jener gesammelt, die in keinem Lexikon stehen. Jeder
Zettel, jede Mappe, jedes Detail des Lebens wird festgehalten; während man liest,
scheint der Text weiter anzuwachsen, als sei ein Leben mit den vorhandenen
Wörtern nicht vollständig zu erfassen.
Krüger versteht seine
eigenen Porträts – in Verabredung mit Dichtern wie in Unter Dichtern –
ausdrücklich als Zulieferungen zu dieser imaginären Enzyklopädie. Die Lyrik ist
darin keine Gattung neben anderen, sondern die heimliche Arbeitsweise dieses
Archivs: Sie verdichtet, hebt hervor, hält fest, was sonst übersehen wird.
Man könnte sagen: Was
Kiš für namenlose Angestellte, Handwerker, Kleinbürger entwirft, überträgt
Krüger auf die Dichter selbst – jene, die zwar Bücher hinterlassen, aber im
kulturellen Gedächtnis kaum Spuren. Lyrik wird hier gegen ihre eigene
Marginalisierung eingesetzt: als Form, die das Verschwinden dokumentiert und
zugleich widerspricht.
Lyrik als Widerrede im
„dichtungsfreien“ Alltag
In einer Passage seines
Vortrags sprach Krüger von einem „dichtungsfreien West-Berlin“ seiner
Jugendzeit – einem Alltag, in dem keine lebenden Dichter sichtbar waren, obwohl
in der DDR unzählige Lyriker existierten, deren Namen im Westen nur
auftauchten, wenn sie der Zensur Schwierigkeiten machten.
Dichtungsfrei: Das ist
ein Wort, das sich auf die Gegenwart übertragen lässt, in der Lyrik allenfalls
noch als Schullektüre, als Grabinschrift, als Zitat in Festreden vorkommt. Das
alltägliche Sprechen, das mediale Sprechen, das akademische Sprechen – sie alle
kommen weitgehend ohne Gedichte aus. Die Philosophie, so bemerkt Krüger, sei
fast „literaturfrei“ geworden; Heideggers Hölderlin-Lektüren wirken wie ein
historischer Unfall.
Gleichzeitig aber sind
es Gedichte, die Krüger als Form für die großen Themen reklamiert: Krieg,
Schuld, Schlaflosigkeit, Angst. Sein Beispiel ist entlarvend schlicht: das
Gedicht über die Angst, im falschen Zug zu sitzen – ein Text, von dem er
überzeugt ist, dass ihn auch afrikanische Leser verstehen würden.
Vielleicht liegt hier
eine der einfachen Wahrheiten des Abends: Lyrik ist keine höhere Sprache für
besondere Anlässe, sondern ein präziseres Werkzeug für alltägliche Zumutungen.
Sie macht nichts „größer“, sie macht es genauer.
Volles Haus, zwei Leser
– und die Frage nach dem Weiterleben der Gedichte
Was bleibt von einem
solchen Abend?
Zum einen das Bild: ein
volles Haus in einer unabhängigen Buchhandlung; ein älterer Mann, der mit
ruhiger Stimme die Geschichte der Lyrik in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts als Abfolge von Demütigungen, Zufällen, Freundschaften und
Nachrufen erzählt; ein Publikum, das lacht und still wird, wenn die Namen
Bächler, Fuchs, Pastior, Kiš fallen.
Zum anderen die paradoxe
Bilanz: Die Lyrik ist öffentlich nahezu unsichtbar – und doch füllt sie Räume,
Biographien, Regale. Sie bringt Menschen dazu, abends in eine Buchhandlung zu
gehen, um Geschichten von Dichtern zu hören, deren Bücher kaum mehr nachgedruckt
werden.
Vielleicht ist Günter
Eichs Vers heute die realistischste Form der Reichweitenmessung: In Bonn weiß er einen, der ihn liest, und in Bad Nauheim. Das sind schon zwei. Wenn man die
Bonner Buchhandlung Böttger als einen dritten Ort hinzunimmt, hat dieser Abend
die Statistik leicht verbessert.
Dass Michael Krüger
ausgerechnet in einer solchen Situation ein Buch vorlegt, das „Unter
Dichtern“ heißt und von Anfang bis Ende von Gedichten lebt – gelesenen,
geschriebenen, zitierten, vergessenen –, ist mehr als nostalgische Geste. Es
ist ein Angebot, die „dichtungs-freie“ Zone des Alltags zu unterbrechen.
Wer diesen Abend erlebt
hat, konnte sehen, wie das aussehen kann: Ein Raum voller Menschen, die für
zwei Stunden bereit sind, sich von Versen, Anekdoten und Nachrufen daran
erinnern zu lassen, dass Lyrik nicht abgeschafft wurde – sie wurde nur an die
Ränder verschoben. Von dort aus schreibt sie weiter.