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Gunnar Sohn: Jenseits der Sprache: Poesie und Übersetzung im Zeitalter des Zerfalls

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Jenseits der Sprache:
Poesie und Übersetzung im Zeitalter des Zerfalls

von Gunnar Sohn


Es ist kein Trost in Sicht. Keine Kulisse, kein Fanal. Nur Worte. Und selbst die: brüchig.

Wer heute Gedichte schreibt, kann sich nicht auf die Illusion berufen, dass sie etwas „bessern“. Die Welt verlangt keine Gedichte. Sie verlangt Geschwindigkeit, Effizienz, Verwertbarkeit. Poesie ist ein Störgeräusch. Aber eines, das insistiert.

Wolfgang Schiffer, dieser Mann der Zwischenräume, stand kürzlich in der Bonner Buchhandlung Böttger und las. Nein: Er entzog sich der Pose des Vortragenden, sprach mit der Stimme der Erfahrung, tastend, hellwach. Seine Verse – eine aus der Tiefe gezogene Sprache – trugen nicht zur Erlösung bei, sondern zum Erkennen.

Denn was ist die Aufgabe der Dichtung in einer Epoche, in der Sprache selbst zur Simulation verkommt? Zur Fassade von Politik, zur Oberfläche von Kommunikation?

Der Dichter in seiner Reduktion – einer, der nicht mehr weiß, ob er spricht oder noch schweigt. Die Übersetzung in ihrer Zumutung – ein Akt des Verrats, der doch das Original überleben lässt. Poesie, das war immer ein Griff ins Nichts, ein Versuch, dem Verstummen ein Gerüst zu geben. In der Übertragung aber gerinnt dieser Versuch zu etwas anderem: zu einer zweiten Geburt. Kein bloßes Abbild, sondern ein neuer Leib aus fremdem Fleisch.

Schiffer weiß um diesen Spalt. Er veredelt ihn nicht. Er markiert ihn. Denn jede Übersetzung ist ein Gebrechen mit Würde. Eine Fraktur, durch die das Licht fällt, wenn man Glück hat. Wenn nicht, bleibt nur der Schatten. „Jede Übersetzung ist eh nur eine Annäherung“, sagt er – und trifft den Kern der Zeit. Denn was anderes betreiben wir tagtäglich als das: Annäherung an eine Welt, die uns entgleitet?

Die Zusammenarbeit mit isländischen Dichtern, mit Jón Thor Gíslason, mit Sjón, mit Ragnar Helgi Ólafsson – sie ist keine romantische Brücke zwischen Sprachen. Sie ist Arbeit am Sprachverlust. Eine letzte Bastion gegen die algorithmisch formatierten Phrasen des Alltags. Gegen das Managementdeutsch. Gegen das LinkedIn-Pathos. Gegen das Weichgezeichnete, das Flache, das brave Bild.

Und so erscheint die Poesie nicht mehr als Ornament des Geistes, sondern als Letztes, das bleibt, wenn die Form versagt. Ein Körper in Zuckungen. Eine Syntax, die sich weigert, gefällig zu sein. Ein Aufstand mit Mitteln der Zerbrechlichkeit.

Wer, wie Schiffer, noch übersetzt, tut dies nicht aus Beherrschung der Sprache, sondern aus Zweifel. Aus dem tiefen Wissen heraus, dass nur im Riss das Eigentliche hervortritt. Vielleicht ist es das, was heute zählt: keine Antworten geben, sondern Risse öffnen.

Die Gesellschaft gleicht einem Satz ohne Prädikat. Sie weiß, was sie will, aber nicht mehr, was sie meint. Zwischen TikTok-Reels und Talkshow-Rhetorik ist der poetische Satz ein Anachronismus. Und doch: Wer sich heute mit Lyrik beschäftigt, betreibt einen Akt der Unzeitgemäßheit. Ein radikales Verlangsamen. Ein Zuwenden. Nicht aus Hoffnung, sondern aus Notwendigkeit.

Denn es bleibt die Frage: Wer übersetzt uns, wenn wir selbst uns nicht mehr verstehen?


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