Gunnar Sohn: Ein Abend wie ein Speicher voller Stimmen
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Ein Abend wie ein Speicher voller Stimmen:
Bonn im Spiegel seiner Schatten
und Lichter
Ein Bericht von Gunnar Sohn
Es beginnt wie ein Flanieren im Zwielicht: durch
Gassen, Erinnerungen, Stimmen. Mal flimmert die Szene wie der Lichtkranz über
dem Bayernzelt auf Pützchens Markt, mal dröhnt sie wie das Wummern alter
Weltkriegsbomben, die irgendwo unter Poppelsdorfer Erde noch ruhen. Mal berührt
sie so fein wie der Schattenriss einer längst vergessenen Salonière. Und dann
wieder schlägt sie ein wie ein Satz über John Locke, der im Rhein versinkt.
Nicht Bonn wird beschrieben an diesem Abend im Pantheon – Bonn wird wachgerufen.
Heraufbeschworen, geradezu. Als ein Resonanzkörper, in dem Geschichte, Ironie
und intime Erinnerung ineinander greifen.
Der Sammelband „Bonner Bogen – Literarisches von A
wie Beethoven bis Z wie Wester-welle“, herausgegeben von Harald
Gesterkamp und Monika Littau, ist mehr als Anthologie. Er ist eine
topografische Spurensuche, ein urbanes Echolot. Wer liest, hört. Und wer hört,
erkennt: Hier spricht eine Stadt, die sich nicht erklären, aber erzählen lässt.
Anke Glasmacher: Das zerbröselnde
Bonn
In zwei Gedichten – „Bonn, Auerberg“ und „Bonn,
Poppelsdorf“ – dekonstruiert Anke Glasmacher die Stadt, wie man ein altes Foto
zerreißt und die Stücke ins Licht hält. Es sind Verse von lakonischer Wucht:
RAF-Reste auf der Ebert-Brücke, Petra Kellys Schatten in Tannenbusch, und ein
Rhein, der sich für gelungene Hausarbeiten nicht interessiert. Glasmachers
Gedichte sind Erinnerungsgeräte: Sie zählen, sie kartieren, sie lassen die
Ministerien zittern. Kein Trost, kein Pathos, sondern präzise Verse, in denen
die Bonner Republik als fragile Kulisse erkennbar wird – und als Schauplatz der
Selbstvergewisserung.
Karin Büchel: Wessen Sockel, wessen
Stimme
Karin Büchel hebt nicht anklagend die Stimme – sie
stellt eine einfache Frage: Warum steht keine Frau auf dem Münsterplatz? Ihre
Erzählung ist leise, aber unmissverständlich. Zwischen Chipstüten und
Geschichtsunterricht, zwischen Opa Gustav und der „Aktion Muttertag“, entspinnt
sich ein Gespräch über Sichtbarkeit, Gerechtigkeit und Erinnerung. Es ist ein
Text, der nichts erzwingen will – und gerade deshalb so viel erreicht. Ein
feministisches Erzählstück ohne Parole, aber mit Nachhall. Bonn, denkt man danach,
ist voller Leerstellen – und das sind keine Zufälle, sondern Entscheidungen.
Iris Schürmann-Mock: Das Brünnchen,
das brennt
Was wie eine Chronik des Pützchens Markts beginnt,
wird bei Iris Schürmann-Mock zur poetischen Liturgie. Ihre Beschreibung der
Kirmes oszilliert zwischen Marktgebrüll und magischer Tiefe. Eine Äbtissin
sticht mit dem Stab in die Erde – und ein Fest beginnt, das über Jahrhunderte
den Rhythmus der Stadt prägt. Inmitten von Zuckerwatte, Schießbuden und
Rizinusöl tauchen plötzlich Figuren auf, die wie aus einer Zeitfuge sprechen:
eine Schmuckverkäuferin, ein Kirmeskind, ein Bettler mit wachsamem Hund. Und dann:
der 11. September 2001 – als für einen Moment selbst das schrillste Karussell
verstummt. Die Bonner Provinz zeigt hier ihre größte Qualität: sie erinnert –
ohne Pathos, aber mit Tiefe.
Monika Littau: Sibylles Monolog
„Die mit Gewalt in mein Leben treten, kann ich nicht
lieben.“ Mit diesem Satz beginnt eine Ich-Erzählung, die in ihrer Klarheit
erschüttert. Monika Littau gibt Sibylle Mertens-Schaaffhausen ihre Stimme
zurück – und was für eine das ist. Glänzend gebildet, kompromisslos eigen, in
der Bonner Gesellschaft des 19. Jahrhunderts eine Ausnahmegestalt. Die
Rheingräfin, wie sie genannt wurde, spricht von Entbindungen – nicht nur von
Kindern, sondern auch von Konventionen. Es ist ein innerer Monolog, der sich
liest wie eine Offenbarung, eine radikale Selbstbehauptung inmitten
patriarchaler Kleingeisterei. Bonns Geschichte, neu formuliert: von einer Frau,
die mehr wusste, mehr tat, mehr liebte, als die Stadt je zu würdigen wusste.
Georg Schnitzler: Nasenflöte gegen
den Kanon
Karl Eduard von Idenstein. Noch nie gehört? Kein
Wunder. Und doch ist er, folgt man Georg Schnitzler, eine Art Don Quichotte der
Bonner Musikgeschichte: Hofkapellmeister, Erfinder der Nasenflöte,
Austernöffner durch Poch, Poch, Poch. Schnitzlers Text ist ein literarischer
Spaß mit ernstem Kern: ein Plädoyer gegen das Vergessen jenseits des
Beethoven-Kults. Die Ironie ist präzise, der Humor gewitzt, das Bonner
Lokalkolorit leuchtet durch jede Pointe. Wenn Idenstein als Urahn des
Furzkissens identifiziert wird, weiß man: Diese Rehabilitierung war überfällig.
Michael Zeller: Abschiede im Transit
Zeller beschreibt, wie ein Schiff auf dem Rhein den
Leichnam Konrad Adenauers transportiert – und wie eine stille Menschenmenge am
Ufer in sich zusammensackt. Jahre später, beim Rücktritt Willy Brandts,
marschieren sie wieder – stumm, ungeplant, erschüttert. Es ist Literatur als
Seismograf kollektiver Empfindungen. Nicht Pathos, sondern Präzision. Zeller
zeigt, wie in Bonn das Persönliche stets ins Politische kippt – und umgekehrt.
Seine Texte sind nicht biografisch, sondern biografisch notwendig. Wer sie liest,
versteht, warum Erinnerung auch Schweigen ist.
David Eisermann: Warhol, Brandt,
Patisserie
Dieser Text ist ein Kaleidoskop. Eine
Coming-of-Age-Geschichte zwischen Schülerzeitung und Poppelsdorfer Allee. David
Eisermann erzählt, wie er Andy Warhol trifft – und Willy Brandt. Die Szene hat
etwas Unwirkliches, fast Pop-Art-haftes: Warhol fotografiert Brandt mit einer
Polaroidkamera, das Bild wird zum Bild im Bild. Und mittendrin: ein 18-jähriger
Bonner mit Presseausweis, Sprachgefühl und wacher Erinnerung. Eisermanns Ton
changiert zwischen Coolness und Sentiment. Ein Tagebuch, das weiß, wie sehr Geschichte
aus Details gemacht ist – und aus zufälligen Begegnungen, die später niemand
mehr glaubt, obwohl sie genau so gewesen sind.
Bonner Bogen: Nicht Nostalgie,
sondern Relevanz
Der Abend im Pantheon war kein literarischer
Festakt, sondern ein öffentlicher Resonanz-raum. Wer dabei war, hat verstanden:
Bonn ist kein Archiv – Bonn ist ein Palimpsest. Schicht um Schicht, Stimme um
Stimme. Die Stadt redet. Man muss nur genau hinhören. Und vielleicht – ganz
vielleicht – hört man dabei ein leises Poch, Poch, Poch.