Direkt zum Seiteninhalt

Gunnar Sohn: Die Urteilskraft der Dichtung

KIOSK/Veranstaltungen > Veranstaltungen

0
Die Urteilskraft der Dichtung -
Ein Abend zu Ehren von Herbert Anton in der Buchhandlung Böttger

Von Gunnar Sohn


Manche Abende beginnen, noch bevor das erste Wort gesprochen ist. Die Luft ist anders. Aufmerksam. Erwartungsvoll. Am 3. Juni 2025 in der Bonner Buchhandlung Böttger war es ein solcher Abend. Es war keine Trauerfeier. Kein akademisches Ritual. Es war ein intellektuelles Wiedersehen mit einem Denkstil, der untergegangen schien: Herbert Anton, der erste Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Germanistik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (1970–2001), wurde nicht nur erinnert – er war gegenwärtig.

Und wie könnte er es nicht sein, wenn seine Aufsätze aus vier Jahrzehnten – von Friedrich Spee bis Thomas Mann – gerade frisch in Buchform erschienen sind: „Die Trutz-Nachtigall ist eigentlich ein Sperling“, erschienen in der Edition Böttger, mit einem ebenso kenntnisreichen wie liebevollen Vorwort von Jochen Hörisch.

Der Mann, der sich dem Pathos entzogen hat
Anton war kein Schulbildner. Kein Prediger. Kein Exeget im Elfenbeinturm. Er war ein Rhetor im klassischen Sinne – einer, der das lebendige Denken formte, nicht verfestigte. Hörisch brachte es auf den Punkt: „Genie und Charismatiker – er war beides. Und zugleich keines von beiden.“
Wer freitags um 14 Uhr den Hörsaal 3A in Düsseldorf betrat, bekam nicht selten eine Denkweise injiziert, die das Wochenende beschäftigte – manchmal ein Leben lang. Anton sprach nicht, um zu dominieren. Er dozierte, um zu eröffnen. Wer ihm zuhörte, spürte: Hier wird nicht die Meinung zum Dogma, sondern das Fragen zur Methode.

Dichtung als Gleichnis und Mythos
Für Anton war die Literatur kein Kulturdekor für Sonntagsreden. Sie war – im besten Sinne – ein mythologischer Erfahrungsraum, in dem die Sprache sich ihrer eigenen Abgründe bewusst wird.
Jochen Hörisch erinnerte an Antons Habilitationsschrift über die mythologische Erotik bei Gottfried Keller, an seine tiefgründigen Analysen zu Thomas Manns Gleichnisrede und an seinen leisen, aber insistierenden Hinweis: Große Literatur behauptet nicht – sie imaginiert.
Deshalb, so Hörisch, war Anton dem Gleichnis so treu. Denn im Gleichnis, wie Thomas Mann wusste, liegt die eigentliche Freiheit.

Von Düsseldorf nach Bonn – Die politische Kompetenz der Dichter
Alfred Böttger, der Inhaber der Buchhandlung und langjährige Freund Antons, begrüßte die Gäste mit feinem Humor. Er erinnerte an Antons Vorschlag für einen Werbespruch für die Buchhandlung: „Schlange stehen erlaubt.“ Und, mit spitzem Witz: „Böttger – die Buchhandlung mit der höchsten Urteilskraft.“ Zwei Anekdoten, die mehr enthielten als Schalk: Für Anton war das Lesen ein Akt der Urteilskraft – und Urteilskraft bedeutet, sich nicht vorschnell festzulegen.
Diese Haltung wurde exemplarisch deutlich in einer der legendärsten Veranstaltungen, die Anton je moderierte: Die große Diskussion „Die politische Kompetenz der Dichter“ im Hörsaal mit Günter Grass, Adolf Muschg, Kurt Biedenkopf und Marcel Reich-Ranicki.
Das Thema, so simpel es klingen mag, bleibt bis heute offen: Was vermag Literatur, was sie nur vermag? Welches Wissen liegt in ihrer Form, in ihrer Instabilität, in ihren mäandernden Reden, in ihrer Unverfügbarkeit?
Anton stellte nie die falsche Frage: „Was nützt Literatur?“ Sondern: „Was weiß Literatur, was wir noch nicht wissen?“

Der dumm-geniale Heidegger – Ein Abend mit Gadamer
Jochen Hörisch ließ den Abend nicht ohne eine Provokation verstreichen. Er erzählte von einem Abendessen bei Anton in der Bahnstraße in Mettmann – mit Hans-Georg Gadamer als Ehrengast. Es sei, so Hörisch, ein Fest der Philosophie gewesen – wäre da nicht die immergleiche Fixierung auf Heidegger gewesen.
Gadamer, nach mehreren Gläsern Wein, habe einen bemerkenswerten Satz gesagt: „Heidegger war ein dummes Genie.“ Ein Oxymoron, das zucken ließ – doch Gadamer begründete: Heidegger sei ein Genie gewesen in seiner philologischen Brillanz, seinen Lektüren der Griechen, Augustinus, Platon. Aber: Heidegger habe nie Freud gelesen. Nie Max Weber. Nie Foucault. Nie Lacan. Und das, so Gadamer, sei schlichtweg dumm gewesen.
Im Unterschied dazu, so Hörisch weiter, habe Herbert Anton diese Impulse aufgenommen. Aus der Soziologie. Aus der Psychoanalyse. Aus dem Strukturalismus. Im Inkognito des Germanisten sei Anton ein Philosoph gewesen – ein Philosoph, der wusste, dass Literatur oft tiefere Theorien bereithält als die Philosophie selbst.

Eine Atmosphäre der Anregung
Antons Lehrstuhl war kein Ort akademischer Konkurrenz, sondern ein Labor geistiger Gastfreundschaft. Die Geltungskämpfe, so oft beklagt im Universitätsbetrieb, waren dort aufgehoben. Es herrschte eine frühromantische Geselligkeit, eine produktive Differenz, ein freundschaftlicher Eigensinn.
Wer reden konnte, war eingeladen. Wer zuhörte, wurde Teil eines Gesprächs, das nicht endete, sondern sich nur in neue Stimmen verzweigte.

Die Rede lebt weiter
Herbert Anton war kein Autor für dicke Bücher. Er war ein Autor dichter Gedanken. Seine Aufsätze – präzise, essayistisch, inspiriert – bilden das logische Gegenstück zu seinem rhetorischen Genie. Dass er nun nicht mehr redet, ist ein Verlust. Doch das Buch, das an diesem Abend in Bonn vorgestellt wurde, zeigt: Seine Gedanken reden weiter.

In den Worten von Gottfried Benn, die Hörisch zum Abschluss zitierte:

„Kommt, reden wir zusammen. Wer redet, ist nicht tot.“


Zurück zum Seiteninhalt