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Gunnar Sohn: Der Schnitt der Vernunft

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Gunnar Sohn

Der Schnitt der Vernunft
László F. Földényi über Paris, die Guillotine
und den Traum der Surrealisten


Ein Mädchen mit Fernrohr

Es beginnt mit einem Mädchen, das ein Fernrohr in der Hand hält. Hinter ihr steigt ein Ballon, daneben schwebt ein Fallschirm. Ein Bild des jungen Ingres, gezeichnet um 1797: Barbara Bansi, Tochter einer Genfer Emigrantenfamilie, blickt in den Himmel – in eine Zukunft, die heller scheint als sie ist. Ein Blick, noch unschuldig, aber schon durchdrungen von der Faszination des Messbaren. Der Ballon hebt ab, der Mensch fällt – und zwischen beiden Bewegungen beginnt die Moderne.

László F. Földényi erzählte diese Geschichte in der Buchhandlung Böttger in Bonn. Kein akademischer Vortrag, sondern ein leises, gedankensattes Pariser Nachtstück, durchzogen von Ironie und Melancholie.

Alfred Böttger begrüßte den Gast mit jener unnachahmlichen Mischung aus Gelehrsamkeit und Witz, die diese Buchhandlung zu einem Ort des Denkens macht. „Fast alle seine Bücher stehen in meinem Fenster“, sagte er, und es klang weniger nach Werbung als nach Freund-schaft.

Die Humanität der Klinge

Földényi beginnt mit der Erfindung einer Maschine, die das Töten humanisierte. So jedenfalls verstand es Dr. Joseph-Ignace Guillotin, als er im Herbst 1789 in der französischen Nationalversammlung den Vorschlag machte, alle Hinrichtungen künftig mit einem einheit-lichen, mechanischen Gerät durchzuführen – schnell, schmerzlos, gleich für alle.

Die Guillotine war das erste technische Symbol der Gleichheit. Kein Henker mehr, keine Tortur, keine soziale Hierarchie im Tod. Der Fortschritt kam mit einer Klinge. Und mit ihm die Illusion, dass sich Moral und Mechanik versöhnen ließen.

Földényi erzählt von der eigentümlichen Faszination, die das Gerät im 19. Jahrhundert ausübte: wie Spielzeug-Guillotinen in europäischen Salons kursierten, mit denen Kinder Puppen enthaupteten. Selbst Goethe, der von allem Technischen magisch angezogen war, wünschte sich für seinen Sohn August ein solches Modell. Die Großmutter verbot es. Vernunft hat manchmal Mütter.

Experimente mit dem Tod

Nach der Revolution begann die Wissenschaft, das Werkzeug des Scharfrichters als Laborinstrument zu betrachten. Ärzte, Physiologen, neugierige Gelehrte beobachteten die abgeschlagenen Köpfe: Blinzelten sie noch? Zuckten die Lippen? Reagierte das Bewusstsein für Sekundenbruchteile weiter?

Földényi zitiert Berichte aus den Zeitungen jener Jahre: wie die Augen der Toten die Blicke der Umstehenden erwiderten, wie ein Arzt dem abgetrennten Haupt eines Verurteilten seinen Namen zurief – und das Gesicht, so wurde berichtet, sich für den Bruchteil einer Sekunde empörte.

Die Guillotine wurde so zum Vorläufer der modernen Neurowissenschaften, ein makabres Experimentierfeld der Aufklärung, in dem man glaubte, den letzten Rest von Bewusstsein messen zu können. Der Schnitt als Methode der Erkenntnis.

Vom Schafott zum Atelier

Hier setzt Földényi seine geistige Verbindungslinie. Die Präzision des Scharfrichters wird zur Geste des Künstlers. Der Schnitt, der Körper trennt, kehrt als Kompositionsprinzip in die Kunst zurück.

Die Surrealisten, hundert Jahre später, übernahmen diese Logik – aber sie wendeten sie um. Wo die Guillotine den Menschen spaltete, setzten sie ihn wieder zusammen: aus Träumen, Fundstücken, Brüchen, Zitaten. Lautréamont sprach von der „zufälligen Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ – ein Bild, das die Grausamkeit der Mechanik in den poetischen Wahnsinn der Assoziation überführt.

Bei Földényi bekommt dieser Satz Gewicht. Die Guillotine, sagt er, war die erste Maschine, die das Denken in Schnitte übersetzte. Die Surrealisten, von Apollinaire über Max Ernst bis zu Buñuel, machten aus diesen Schnitten ihre Grammatik.

Inkohärenz als Methode

In seiner Lesung beschreibt Földényi mit spürbarer Freude die Vorläufer des Surrealismus: die „Inkohärenten“, eine anarchische Künstlergruppe im Paris der 1880er-Jahre. Ihre Ausstellungen trugen Titel wie Zeichnungen von Menschen, die nicht zeichnen können. Zweitausend Teilnehmer reichten Werke ein – schwarze Leinwände, weiße Leinwände, betende Schweine, zerlegte Körper, Karikaturen des Ernstes.

Es war die Ästhetik des Zufalls, des Dada avant la lettre. Die Jury loste die Preise aus. Der Spott wurde zur Methode, der Unsinn zur Erkenntnis. Földényi beschreibt diese Bewegung als „humoristische Wiederkehr der Revolution“: Wo Haussmann mit Lineal und Dekret Ordnung schuf, zersägten die Inkohärenten die Welt in Stücke – und lachten darüber.

Ihre Nachfahren sind die Surrealisten. Was in der Guillotine begann – die Idee, dass Erkenntnis durch Trennung entsteht –, endet in Collage und Montage, in Lautréamonts, Duchamps, Arps und Richters Welt.

Die Anatomie des Traums

Die Guillotine schnitt den Körper, der Surrealismus schnitt die Sprache. Beide suchten das Unbewusste, das im Moment der Trennung aufblitzt.

Apollinaire, sagt Földényi, war der Chronist dieser Umkehrung: Seine „Calligrammes“ ordnen Wörter wie Körperteile, die sich auflösen und neu zusammensetzen. Bei Proust wird die Erinnerung zur sanften Guillotine – ein Akt der Zergliederung, der Liebe, der Zeit. Lautréamont und Rimbaud treiben den Schnitt ins Visionäre: das Denken als Enthauptung der Gewissheit.

So entsteht eine doppelte Bewegung – die Aufklärung schafft das Messer, der Surrealismus verwandelt es in ein Werkzeug der Imagination.

Epilog: Bonner Surrealismus

Als Alfred Böttger am Ende das Wort ergreift, klingt die Geschichte wie eine Variation über Paradoxien. „Ihr enzyklopädisches Wissen erschlägt mich nicht, es erfreut mich“, sagt er. „Ich bekomme Lust, weiterzudenken.“ Und dann fügt er hinzu, ganz Kaufmann und Philosoph zugleich: „Wenn Sie noch einmal ins Buch schauen, werden Sie es kaufen. Und wissen Sie, was dann passiert? Sie machen mich reich – und, viel schöner, Sie machen sich selbst reich.“
Das Publikum lacht. Draußen regnet es über Bonn, als habe sich ein Hauch von Pariser Melancholie in die Nacht verirrt.

Vielleicht, denkt man, war die Guillotine nur der Auftakt einer geistigen Revolution, die noch immer andauert – der Versuch, in jedem Schnitt einen Gedanken zu finden, in jeder Wunde ein Bild, in jeder Unterbrechung ein neues Beginnen.

Barbara Bansi hält ihr Fernrohr in der Hand. Der Ballon steigt, der Fallschirm sinkt. Zwischen beiden – die Schwebe des Bewusstseins.

Denken, sagt Földényi, ist vielleicht nichts anderes,
als den Fallschirm nach dem Fall zu erfinden.


László F. Földényi: Der lange Schatten der Guillotine. Lebensbilder aus dem Paris des neunzehnten Jahrhunderts. Deutsch von Ákos Doma. Berlin (Matthes & Seitz) 2024. 302 Seiten, 28,00 Euro.
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