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Gunnar Sohn: "Der gläserne Aufzug in die Hölle"

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Gunnar Sohn

„Der gläserne Aufzug in die Hölle“ (am 8. Juli 2025)
Eine satirische Rezension der Lesung von Thomas Franke: Koloko-lamsk trifft Bonn


Es gibt Lesungen, bei denen man lächelt. Und es gibt Lesungen, nach denen man den Eindruck hat, einem sei ein komplettes Ministerium auf LSD begegnet. Die Darbietung von Thomas Franke in der Bonner Buchhandlung Böttger gehört eindeutig zur zweiten Kategorie. Er las aus den surreal-genialen Geschichten von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, vorgetragen mit der Inbrunst eines meschuggenen Barden – und verwandelte Kolokolamsk in eine mentale Partnerstadt Bonns.

Kolokolamsk, das ist die Stadt, in der alles möglich scheint: Wundermittel gegen Rheuma, staatlich alimentierte Auto-Unfälle, ein 32-stöckiger Wolkenkratzer aus Träumen – und das alles, ohne dass jemand auch nur einen Tag gearbeitet hätte. Franke macht daraus ein wildes Panoptikum der Gegenwart, das wie ein Brennglas auf unsere städtischen Debatten scheint: über Finanzlöcher, Wunderheiler, politische Blender, Thermalkurorte mit Abwasseranschluss und Investitionen in den Irrsinn.

Die wundersame Geldvermehrung durch Körperverletzung

Eine der köstlichsten Episoden, die Franke mit weinseliger Emphase zum Leben erweckte, war die vom Doktor Grom. Überfahren – oder vielmehr angefahren, absichtlich – von einem Diplomatenfahrzeug der Botschaft Klatwias. Ergebnis: 120 Rubel monatlich. Alsbald taten es ihm andere gleich: der arbeitslose Konditor Jelissejewitsch, der Musiklehrer Bugajewski – alle wurden zu Unfallkünstlern mit fester Rente.

So entstand ein absurdes Geschäftsmodell: Renten durch diplomatische Verkehrsdelikte. Kolokolamsk wurde zum Mekka der staatlich subventionierten Selbstverletzung. Bis Klatwia fast kollabierte, Beamtengehälter halbiert und die Armee auf 15 Mann reduziert werden musste. Eine Geschichte, die in Bonn beim Blick auf Haushaltslöcher, verzögerte Bauprojekte und Investitionsphantasien durchaus als Parabel taugt.

Die große Heilquelle – aus dem Abwasserrohr

Ein Highlight der Lesung war die Episode um die „Quelle der zweiten Jugend“. Entdeckt im „Abenteuerwinkel“ von Kolokolamsk, erwärmte sie nicht nur das Gemüt von Nikita Psow, sondern auch seine rheumatischen Knie. Schon stand Dr. Grom mit weißem Kittel parat, um aus dem trüben Nass Mineralwerte zu zaubern, die Kislowodsk erblassen ließen. Heilung für alles – von Impotenz bis Milzbrand.

Binnen Stunden wurde ein Unternehmen gegründet, Wasser in Flaschen gefüllt, Vorträge gehalten, Einnahmen verteilt. Bis eines Tages ein Klempner kam und nüchtern verkündete: Es handelte sich um ein geplatztes Abflussrohr aus Haus Nr. 3.

Das Publikum in der Böttger-Buchhandlung lachte Tränen. Und man fragte sich unweigerlich: Ist das wirklich Satire? Oder ist das einfach nur eine andere Form der Pressemitteilung aus dem Bonner Rathaus? Auch dort finden sich bisweilen Wunderprojekte, die plötzlich versiegen – weil der Kanaldeckel nicht passt.

Der rosa Gentleman aus Argentinien

Thomas Franke schlüpfte mit szenischem Gespür in die Rolle von Horacio Fedorencos, dem zurückgekehrten Emigranten in rosa Cheviot-Anzug, der aus Dankbarkeit einen Wolken-kratzer für seine Heimatstadt baute. Ein architektonischer Höhenflug, der ganz Kolokolamsk beherbergen sollte – samt Polizei, Vieh, Kneipen und Ausnüchterungszellen.

Doch wie es bei Hochglanzprojekten nun einmal ist: Der Aufzug fährt Amok, Stromausfall, Raubüberfälle, Fensterbrüche, Kältestarre. Am Ende steht das Gebäude leer wie ein Prestigeprojekt, bei dem die Einweihungsrede das Beste war. Wer in Bonn in der 32. Etage eines ambitionierten Smart-City-Konzepts sitzt, sollte sich vielleicht daran erinnern, wie rasch die Höhenluft dünn werden kann.

Und dann? Der Händedruckverweigerer als Ledermogul

Auch diese Episode – gelesen mit seufzendem Ernst und grotesker Würde – passte perfekt ins heutige Narrativ von moralisch begründeter Geschäftstüchtigkeit. Der Vorsitzende der Gesellschaft „Weg mit dem Händedruck“ wird gefeiert wie ein Nationalheiliger, beschenkt mit dutzenden Aktentaschen – und verkauft diese tags darauf als Schuhe, Gürtel, Lederwaren.
Franke inszenierte diese Szene als bittere Farce auf ideologische Karrieren, Nachhaltigkeitszertifikate und Karrieren im Etikettenbereich: heute Ethikbeauftragter, morgen Taschenverkäufer. Was zählt, ist der Spin. Oder wie Franke lakonisch sagte: „Man kann aus allem Kapital schlagen – selbst aus der Ablehnung des Kapitalismus.“

Kolokolamsk ist überall. Auch in Bonn.

Thomas Frankes Lesung war mehr als ein literarischer Abend – es war ein Spiegelkabinett der Absurditäten unserer Zeit. Die Geschichten von Ilf & Petrow, verfeinert mit Frankes sarkastischer Tonlage, zeigen: Der Irrsinn braucht keine Dystopie. Er hat längst Adresse, Aktenzeichen und Ausschusssitzung.

Und während in Bonn über Haushaltslöcher von 200 Millionen Euro debattiert wird, Heilquellen zur Tourismusförderung sprudeln sollen und die Digitalisierung durch analoge Antragsformulare erfolgt, fühlt man sich doch sehr an Kolokolamsk erinnert.

Thomas Franke hat uns gezeigt: Man kann lachen. Aber nur, wenn man nicht selbst gerade vor den Wagen gesprungen ist.


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