Gundula Schiffer: Ist dieser Himmel etwa schneehaltig, und welches Neujahr feiert mein Gedicht?
Montags=Text
Foto: Rebecca Peetz
Gundula Schiffer
Ist
dieser Himmel etwa schneehaltig, und welches Neujahr feiert mein Gedicht?
Was ist der Schneegehalt dieses Himmels
und seines Gedichts im Sommer? Feiere
ich Neujahr am 31. August. Wundere mich
und erzähle euch, die ihr mir irgendwann
-wo zuhört, wie es dazu kommen konnte.
Manchmal passiert es, die Nacht ist schöner
als der Tag war.
Das Wichtigste erreicht dich vor dem
Schlafengehen, wenn kaum noch Zeit bleibt / glücklich zu sein über ein
Geschenk, das mehr überrascht als an jedem Geburtstag. / Es ist wie ein kleines
Sterben, Ende des Lebens mitten in der Woche.
Tatsächlich geschah, was ich meine, hier in
Linien überführe, dass es nicht wie ein Sternenkind / scheinbar verschwindet
(denn von einem Stern wird hier gleich noch die Rede sein) / an einem Mittwoch
– aber jetzt kommt der Trick, was bisher nur ich wusste: / innerlich habe ich
längst den Kalender gewechselt oder lebe mit zweien mit / meinen zwei
Handflächen auf die ich schaue wie auf die Uhr wann ich los muss / zum nächsten
Fest, zum Ballett oder in den Chor, in die Kirche oder Synagoge. / Schaue ich
auf die beiden Teller, ins Verkehrsnetz das dort verzeichnet ist, falls / ich
wissen will, was heute noch vor mir liegt und wie ich da hinkomme.
Ihr wisst, der Kalender, das ist zunächst
eine Entscheidung zwischen Sonne und Mond / und nun bin ich mit dem Mond
vertraut, ankere in ihm, einem großen Teich, ist er auch / meine Mikwe, in die
ich dann und wann untertauche, und die Taschenlampe wenn ich / nachts
Verstärkung brauche, weil meine Schrift im Clinch liegt mit künstlichem Licht.
All das vom Schiff aus, das ich bewohne. War
also der Dienstagabend, seine Nacht / wegen meines Manns im Mond schon
Mittwoch, also wirklich Mitte der Woche: drei / Tage später, Sonntag, beginnt
in dieser historischen, weisen Struktur eine neue Runde. / Und war Elul, der
Monat der Vergebung, wenn meine Ohrmuschel geformt ist wie ein / Schofar,
während die Nachbarn tippen, ich liebte Cosplay, Elfen und Fantasy, wäre /
verrückt geworden, wegen des Wollpullis, der Mütze, dem nicht nur bedeckten,
nein / schneegefüllten Himmel, den ich im Hoch-, Spätsommer über mir erschaue,
was nicht / zu therapieren, reparieren ist. Wie das Wetter, es ist wie ein
Gott, über Ärzte und Hand- / werker erhaben, was wir wissen, aus dem Tanach.
Der Bibel, ihrem hebräischen Part.
Es war also weder der 31. August noch der 1.
September 2021, sondern: der 24. Elul 5781. / Genau genommen auch nicht
Mittwoch, sondern jom reviʼi vierter Tag, zwei Tage / noch bis Schabbat. Kurz
vor Rosch Haschana (begann am sechsten September, abends) – / erwiderte der
Kosmos, wie der Geliebte Schulamits, mein inneres Neujahr: „Elul“ – / wie schön
ist der Klang dieses Monats, er ist mir der liebste Name unter den zwölfen /
ist ein Ruf, vor den Jamim Noraʼim, den Furchtbaren Tagen vor dem großen
Gerichts- / tag, der im Mollakkord, Jasminduft der Versöhnung endet. Das Gute
danach, das gewiss / kommt, wenn du durch den Tunnel bist, wie seit der
Genesis, das Licht. –
Bin ich jetzt hier entlanggetanzt, so wie
die Worte mich bewegten, mit den Gedanken, die / sie sich machen, seit sie das
Leben mit mir durchspielen, um aufzuzeichnen ins Logbuch: / dass ich gestern
Nacht, als der neue Tag begann, mein persönliches Neujahr feierte, das / seinen
Segen / bekam vom nahenden Neujahrsfest meiner Wahlverwandtschaft, in der
Stille dieser Nacht / als ich nichts anderes hören wollte als nur den Widerhall
deiner klaren Zuwendung – ja
doch! Man kann es hören, wenn jemands Zeilen
zeigen, dass sie für etwas stehen, was just / fehlt: so ein Dasein als Zaun,
drehen sie sich gleichsam um – diese kurze Kraftübertragung / wo der Rücken
aufgeht, der Paravent wegrückt, da du liest, schiebst: Sah ich plötzlich ein /
huschendes Licht, dachte spontan, ein Lausbub hätte einen übriggebliebenen
Silvester- / kracher gezündet und den August verabschiedet – folgte wie der
Blitz ich, der richtige / Begriff, was mir entwich: „Sternschnuppe“, sprach den
klaren Wunsch aus, zwei Töne / in der Musik, unseren Akkord, und war Frieden
wie in Bethlehem.
Die Wissenschaft verglüht, der Meteor ist
kein Trumm, wirklich Stern, so standhaft wie Schriftliches / das ein Gedankenwischer töten mag, der Wiederschein aber
kehrt wieder, was Schnuppen
Sternenkinder heißt, hin - fort ist, sprich
weiter - hin
In Gundula Schiffer: Hioba Hymore. Gedichte. Deutsch, Hebräisch. Nettetal (ELIF Verlag) 2023. 120 Seiten. 22,00 Euro.