Günter Abramowski: wer ist wir
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Marcus
Neuert
Günter
Abramowski: wer ist wir. neokontemplative gedichte. Würzburg. (Verlag
Königshausen & Neumann) 2024. 112 Seiten. 12,80 Euro. (D) ISBN
978-3-8260-8767-7
Das Wir als
Subjekt der Hoffnung
Der
westfälische Dichter Günter Abramowski, geboren 1948 in Bochum und heute in
Dortmund lebend, hat bei Königshausen & Neumann seinen neuesten Gedichtband
vorgelegt, der bereits sein zehnter ist: “wer ist wir“. Diese Frage, welche die
rund achtzig lyrischen Texte betitelt, impliziert schon beim ersten Anlesen
eine Suche nach Antwort, besser: nach Antworten auf die Konstitution unseres
gesellschaftlichen wie auch unseres ganz persönlichen Miteinanders. Aus dem
Fehlen des Fragezeichens spricht eine gewisse Skepsis, das Erwägen der
Möglichkeit, dass es ein ausdrückliches Ausrufezeichen hinter einer
entsprechenden Erwiderung nicht geben könnte; nicht jedoch die Vorannahme von
Vergeblichkeit – im Gegenteil. „Mein wir ist mein Subjekt der Hoffnung,
um das ich täglich kämpfe“, schreibt Abramowski in einem Brief zu seinen neuen
Gedichten.
Gleichermaßen vorsichtig wie
zielstrebig tastet sich der Autor in seinen „neokontemplative[n gedichte[n]“
denn auch an sein Sujet heran: die Erkundung des Ichs in der Welt, in seinen
vielfältigen Verwebungen mit dem Anderen und den Anderen. Das muss bei ihm,
einem ehemaligen Sozialarbeiter und Drogenberater, letztendlich schon aus
biografischen Gründen auch einen gesellschaftspolitischen Impetus haben. Und so
kommen in seinen Versen auch immer wieder kritische Einlassungen zu aktuellen
Themen vor, etwa zum derzeit grassierenden Bellizismus in der deutschen
Gesellschaft: „zu sehen das spiel / störender / die aus göttlichem / einen
kriegsgott glauben“ (S. 18) oder zu modischen Bekenntnissen, die im Grunde doch
nur alten kapitalistischen Ansprüchen das Wort reden:
wir nehmen deinen schmerzdu bist leistungsorientiert individuell wokewir machen den weg freifür die zukunftwir wissen du kannstunsere sorge dein glückin exklusiven wohlfühl-zonen(S. 54)
Doch
auch die Suche in sich selbst nach den Bezügen zum Du kommt dabei nicht zu
kurz. Das Selbst- und Welt-Betrachtende in diesen Gedichten ist zwar mitunter
ein Prozess des Suchens und Tastens, des Aufspürens von Innerlichkeit: „ein tag
wie ein zartes blasses kind / hielt sich an mir / als sei er / aus einer
überforderten welt“ (S. 20). Abramowskis lyrisches Ich, welches zuweilen auch
in Form einer Du-Ansprache auftritt, findet im Laufe der Texte aber auch immer
stärker zu Momenten der Gewissheit, zu einer Form von sanften
Handlungsanweisungen, die es mit seiner Lesegemeinde (und hier passt der leicht
religiös konnotierte Begriff einmal wirklich) teilen muss: „stilles wissen //
in dir / mit dir / überall wo du es brauchst // tritt aus dir heraus /
bereitend den ort / zu dir zu kommen“ (S. 65).
Glücklicherweise bleibt man beim Lesen
jedoch nicht an solchen, das Esoterische streifenden, Versen hängen, sondern
wird immer wieder auch durch recht drastische und gleichzeitig
neologistisch-hintergründige Formulierungen wie „die
gleichschaltungsbeauf-tragte ist eine ki“ (S. 70) auf den Boden der
Lebensrealität und ihrer Gefahren zurückgeholt.
Natürlich hat auch Günter Abramowski
keine allgemeingültigen Rezepte für sein literarisches Anliegen, dieses
„[N]eokontemplative“ seines Untertitels, die kann Lyrik nie haben, wenn sie
sich ernst nimmt: die gute Poesie unserer Epoche ist weder eine psychoanalytische
Häppchenplatte noch Auswuchs moralisierender Erbaulichkeit, sondern „[S]ie
kommt, da sie nicht wie alle anderen Künste an irgendwelche materielle
Wirkungs-weisen gebunden ist, der Einbildungskraft auf halbem Weg entgegen“, wie
Achim Wannicke schreibt; sie ist mithin das geeignete Medium jener
Ich-Erforschung, die nicht bei sich stehenbleibt, sondern die Möglichkeit zur
Du-Transzendenz in sich trägt. Diese Erkenntnis führt uns Günter Abramowski in
„wer ist wir“ einmal mehr auf seine ihm eigene poetische Weise vor.
©
Marcus Neuert, Dezember 2024