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Greta Lauer: Gedeih und Verderb

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Monika Vasik

Greta Lauer: Gedeih und Verderb. Wien (Luftschacht Verlag) 2023. 112 Seiten. 18,00 Euro

„inmitten der Scheiße meines Dorfes“


In Österreich gibt es eine lange Tradition der Anti-Heimatliteratur oder, präziser, der kritischen Heimatliteratur, die sich gegen die Verklärung des Lebens in der Provinz und gegen Romantisierungen ländlicher Sozialmodelle wendet. Darauf kann in dieser Besprechung nicht näher eingegangen werden, gleichwohl ist mir der Hinweis wichtig für die Einordnung des Debütbands von Greta Lauer.

Gehe ich von meiner eigenen Lesebiografie aus, waren es Schriftsteller der 1970er Jahre, exemplarisch nenne ich Franz Innerhofer, Thomas Bernhard und Gernot Wolfgruber – es entsprach dem damaligen Unterrichtskanon, dass Autorinnen nicht darunter waren ­– durch die ich mit dem Anti-Heimatroman konfrontiert wurde. Diese und andere Autoren füllten den Begriff für mich auf formal unterschiedliche Weise mit Substanz und führten mir, die in einer Großstadt aufwuchs, die Abgründe des Lebens im Mikrokosmos Dorf oder Einzelhof sowie Aversionen der Landbevölkerung gegen das Städtische mit seinen komplexeren Strukturen plastisch vor Augen. Das Dorf, der Hof waren kein Ort des Schutzes durch eine zusammenstehende Gemeinschaft und kein idyllischer Flecken Erde mit unschuldiger, dekorativer Naturkulisse, sondern sie wurden als Hort der Überwachung, repressiver Strukturen und des Zurechtschlagens, als Hort der Nieder-tracht und der Sprachlosigkeit gezeichnet, während im Hintergrund die Kriegsvergangenheiten und deren Verschweigen waberten. Man war auf Gedeih und Verderb den anderen Menschen des Dorfs, ihren Vorurteilen und Bösartigkeiten ausgeliefert.

Als Vorläufer, möglicherweise auch Impulsgeber der Erzählerin Greta Lauer (*1990) kam mir bei der Lektüre zudem ein anderer österreichischer Autor in den Sinn, nämlich Gert Jonke (1946-2009). Da sind zunächst biografische Gemeinsamkeiten, denn beide wurden in Klagenfurt geboren, leb(t)en in Wien und Erfahrungen des Kärntner Umfelds sowie der touristisch vermarktbaren Naturkulisse könnten ein, wenn auch durch viele Lebensjahrzehnte der Entwicklung getrenntes, so doch ähnliches Betrachten der Heimat und der Heimattümelei bewirkt haben. Jonke legte 1969 23-jährig sein Debüt „Geometrischer Heimat-roman“ vor, das ein Kultbuch der literarischen Avantgarde in Österreich ist. In Bezug zu Lauers Buch halte ich seinen Roman „Der ferne Klang“, erstmals erschienen 1979, ebenfalls für erwähnenswert. Beide, Jonke wie Lauer, reizen die Grenzen des sprachlich Erzählbaren aus und sie eint, dass sie experimentell erzählend repressive Traditionen vorführen und versuchen, diese durch und mit ihrer Sprache von innen heraus gleichsam zu sprengen.

Greta Lauers Band trägt keine Gattungsbezeichnung. Im Klappentext steht das Wort „Text“, dennoch wird das Werk auf der Homepage des Verlags als „Roman“ bezeichnet, was den Mühlen einer leichteren Vermarktbarkeit geschuldet scheint. Gedeih und Verderb ist eine dystopische Erzählung über ein Dorf, in dem blutige Traditionen und rituelle Bräuche das Leben bestimmen, die von niemandem in Frage gestellt werden. Im Zentrum steht ein Triumfeminat aus Großmutter, Mutter und (Enkel)Tochter. Sie scheinen den Schicksalsgöttinnen der nordischen Mythologie nachempfunden, die u.a. auch in Richard Wagners Götterdämmerung eine Rolle spielen. Die mythologischen Nornen stehen für das Gewordene, das Werdende und das Werdensollende, lagern an der Quelle des Schicksals und sind für das Los von Menschen und Göttern verantwortlich. Die drei Frauen in Lauers Buch wiederum wohnen im Dorf, das unbarmherziger Quell des Schicksals aller war und ist. Sie bewahren das Dorfgedächtnis, verwalten, bestimmen und überwachen die Dorfbewohner*innen, exekutieren eherne Gebräuche und Riten und sie archivieren, was es aus Tradition zu archivieren gibt. Männer haben wenig Funktion. Denn die drei Frauen dieser Familie tragen die Verantwortung für das Dorf und sein Gedächtnis und geben diese matrilinear weiter. So weiß die Enkeltochter, dass mit dem Tod der Großmutter sie die Stelle der Mutter einnehmen wird müssen, während jene die Stelle der Großmutter übernehmen wird. Ihr graut vor der vorherbestimmten Zukunft, denn sie will nicht in die Fußstapfen von Mutter und Großmutter treten und deren Aufgaben übernehmen.
Die drei Frauen tragen keine Namen, sondern sind durch ihre Verwandtschaftskonstellation bezeichnet. Auch das übrige Personal des Textes bleibt namenlos. Es sind entpersönlichte Marionetten an den Fäden des unbeeinflussbaren Schicksals und sie existieren kollektiv als die Mädchen, die Buben, die Mütter, der Vater oder der Pfarrer. In immer wieder neuen Bildern erzählt Lauer Episoden aus diesem abgeschiedenen Dorf und vom festgefügten Schicksal, gegen das sich niemand erhebt, sondern das klaglos akzeptiert wird. Teil dieses Schicksals sind rohe Gewalt und Grausamkeiten, sexuelle Übergriffe, Nötigung und Vergewaltigung sowie brutale Verstümmelungen. Amputationen von Körperteilen werden Sinnbild für die Amputation der Sprache und die zunehmende Sprachlosigkeit. So entnimmt die Großmutter den sogenannten „losen Frauen“ ihre Kehlköpfe, präpariert diese und archiviert sie in Rex-Gläsern. Die Großmutter wiederum hat nur Handstümpfe, weil ihr vom Großvater einst die Finger ausgerissen wurden, denn die Sprache saß in ihren Sprachfingern. Lauer gelingt es, das Fehlen der Sprache eindrücklich nachzubilden in kurzen Sätzen, die das Grauen karg und wie beiläufig berichten, wobei die Regeln der Grammatik und der Semantik gewahrt bleiben. Und sie reichert den Text sparsam mit Neologismen, Alliterationen und Assonanzen an.

Das Buch hat Märchencharakter, ist durchwirkt mit magischem Denken und deftigen Alptraum-szenarien. Nicht alles hat sich mir entschlüsselt, doch ich empfinde es als Stärke, dass manches Geheimnis bleibt, wobei sich einiges bei mehrfacher Lektüre nach und nach klärt. Dass die Taten und das Zuschauen nicht so schlimm seien, vermittelt Lauer durch die Verwendung des Diminutivs, wenn sie verniedlichend von „Kehlköpflein“ oder von „Augäpfelein“ spricht. Abstumpfung und Gefühlskälte zeigen sich im naiven Ton der Ich-Erzählerin, wenn sie von Gewalttaten berichtet. Hass und Gleichgültigkeit bestimmen die Gefühle der Dorfbewohner*-innen, Empathie oder gar Liebe gibt es nicht. Die größtmögliche Nähe drückt sich durch die Geste „legt mir die Hand auf mein Haar“ aus, eine Wendung, die im Buch zwar öfter wiederholt wird, mit der aber niemand etwas anfangen kann. Auch andere Sätze und Halbsätze werden repetiert, die gelegentlich als Versatzstücke wie verloren im Text stehen. Beschnitten werden zudem Zitierungen von Kinder- und Weihnachtsliedern oder Gebeten, die als Fragmente fernste Erinnerungen an andere, vermutlich nie paradiesische Zeiten anklingen lassen.

Als die Großmutter stirbt, bricht die Ich-Erzählerin aus dem Dorf aus und zieht in die Stadt. Mit sich nimmt sie nicht nur die Bilder, Geschichten und Traumata ihres Lebens, sondern auch die versehrte, unbrauchbare Sprache. Mitgekommen sind zudem die von der Großmutter stumm gemachten „losen Frauen“, die einst in den Hauswänden im Dorf verschwanden und nun auch bedrohlich die Wände in der Stadt bewohnen. In einer Wand verschwinden ist ein Topos des Ich-Todes, der schon in Ingeborg Bachmanns „Malina“ vorkommt, ein Symbol für die Auslöschung des individuellen Frauen-Ichs durch patriarchale Strukturen. Bei Lauer hingegen werden alle Ichs ausgelöscht durch die sektiererische Rigidität der Glaubensgemeinschaft eines Dorfs. Die junge Frau, die hinaus in die Weite der Stadt strebte, sitzt nun allein in ihrer Wohnung und es „hängt die Einsamkeit in Fetzen von der Decke“. Sie ist der Fremde ausgeliefert und weiß hier mit ihrem Erbe nichts anzufangen, was in Sätzen wie „Und dann bin ich auseinandergefallen“ oder „Mir sind die Sprachfinger abgefallen“ deutlich wird. Dennoch keimt allmählich Hoffnung auf (Er)-Lösung von ihrem vorherbestimmten Schicksal in diesem dichten, wunderbar vielschichtigen Debüt der Schriftstellerin Greta Lauer.


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