Gorch Maltzen: Sträuben
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Dietmar Ebert
Gorch Maltzen: Sträuben. Erzählungen und Dialoge. Weimar (EDITION MUSCHEL-KALK der Literarischen Gesellschaft
Thüringen e.V. Hrsg. von André
Schinkel. Band 47. Wartburg Verlag) 2018. 80 Seiten. 14,00 Euro.
Ein
außergewöhnliches literarisches Debüt
Gorch Maltzens Band Sträuben. Erzählungen und Dialoge
Die Hauptsache ist, dass wir glücklich sind, auch wenn uns gerade nicht danach zumute ist. (Gorch Maltzen)
Texte
ohne Altersspuren
In
einer Zeit zunehmender Beschleunigung, in der Jahr für Jahr neue Bücher auf den
Markt kommen, Bestseller rasch verkauft und schnell vergessen werden, in der bedeutende
Schrift-stellerinnen und Schriftsteller schon wenige Jahre nach ihrem Tod nur
noch Spezialisten bekannt sind, ist immer wieder nach den leisen und
eindringlichen literarischen Stimmen fernab des Mainstreams zu fragen.
Daran
musste ich denken, als ich kürzlich wieder Gorch Maltzens 2018 erschienenen
Debütband Sträuben. Erzählungen und
Dialoge zur Hand nahm und in ihm zu lesen begann. Zwar sind sieben Jahr
keine sehr lange Zeit, bedenkt man jedoch, was in den letzten sieben Jahren
alles geschah - eine Pandemie, der bis heute andauernde Angriffskrieg Russlands
auf die Ukraine und eine unberechenbare globale Situation, so kann man doch von
sieben Jahren sprechen, die die Welt verändert haben. Ich fürchtete, dass Gorch
Maltzens Texte in den vergangenen sieben Jahren merklich gealtert sein könnten,
fand jedoch keine Altersspuren. Wie war das möglich? Hatte er sich vielleicht
den Fragen der Gegenwart entzogen und einen zeitlosen Stil gewählt? Das
Ergebnis meiner erneuten Lektüre ist: Genau das Gegenteil ist der Fall. Gorch
Maltzen schaut auf Gegenwart und Geschichte mit einem kühlen, durch-dringenden
Blick, lässt sich vom Zeitgeist nicht vereinnahmen und sucht mit Ehrlichkeit
und Konsequenz nach einer seinen Stoffen angemessenen literarischen Form. Diese
„leise Widerständigkeit“ zeichnet die Texte seines Debütbandes auch sieben
Jahre nach ihrem Erscheinen aus. Sie haben nichts von ihrer Brisanz verloren
und wecken Neugier auf Neues.
Ein fulminantes
literarisches Debüt
Ein fulminanter Debütband ist anzuzeigen.
Es ist der Band 47 der EDITION MUSCHELKALK. André Schinkel hat ihn im Auftrag
der Literarischen Gesellschaft Thüringen e.V. im Weimarer Wartburg-Verlag
herausgegeben. Sträuben, so
heißt der schmale Band, der Erzählungen und Dialoge umfasst, und Gorch Maltzen
sein Autor. Gorch Maltzen wurde 1987 in Heide (Holstein) geboren und studierte
Italianistik in Hamburg. Er schreibt Erzählungen und dramatische Texte. Erfurt
und Thüringen sind seine Wahlheimat.
Mit Sträuben hat Gorch Maltzen ein starkes Debüt vorgelegt. Der Band
ist eine kritische Spiegelung des Gegenwärtigen. Natürlich ist es interessant,
was Gorch Maltzen erzählt, doch viel interessanter und spannender ist, wie er
erzählt.
Der dreiteilige
dramatische Text Sträuben zeigt
absurdes Theater im Hier und Jetzt
Sein dreiteiliger dramatischer
Text Sträuben ist an Samuel Beckett
orientiert, nur die Entfremdungs- und Beschleunigungsspirale hat sich seither
kräftig gedreht, und unsere Welt ist um vieles absurder geworden als die
Becketts. Die logische Konsequenz wäre zu schweigen. Kann denn „äußere
Realität“ überhaupt noch in einen dramatischen Text Eingang finden? Doch,
schon, z.B. in den Regie-Anweisungen: ˂Regen>, ˂Stille>,
˂Windrauschen> oder ˂Grillen
zirpen>. Das Mutige und Witzige ist,
wie Gorch Maltzen die Personen 1 und 2 dazu bringt, Dialoge über alles Mögliche
zu führen. Sie sträuben sich, Figuren oder Charaktere zu werden, tragen nicht
einmal mehr Namen und geben gestanzte Formulierungen von sich, Stereotype, die
uns in den Medien immer wieder begegnen. Das Großartige an den Dialogen: Sie
sind ohne Sinn und gerade darum voller Witz und Komik. Und noch etwas: Sie
spielen zwar in einer Kunstgalerie, aber die kann überall und nirgends sein.
Ort und Zeit, die Grundpfeiler der aristotelischen Dramatik, sind aus Maltzens
dramatischen Texten entfernt worden. Wir befinden uns im Zwischenreich von
„Überall“ und „Nirgendwo“, von „Jederzeit“ und „Niemals“. Dadurch fällt die
Spannung zusammen und alles tritt mit allem in Verbindung, ohne einen Sinn zu
ergeben. „Wie jetzt?“ So mag der Leser fragen.
„Keine Ahnung.“ So der Rezensent. Doch so viel sei angemerkt: Indem der
Autor Ort und Zeit aus seinen dramatischen Texten ausspart, indem er den Dialogen
seiner Personen jeglichen Sinn verweigert, findet er starke literarische
Mittel, um unsere Gegenwart kritisch zu durchleuchten. Zugleich entsteht eine
Art Hallraum zwischen den Personen und ihrem Autor, und zugleich zwischen
diesen und der Leserschaft, ein Raum für das Lachen über eine literarische
Welt, die eine „äußere Realität“ spiegelt, deren Zumutungen jedem denkenden
Menschen das Lachen im Halse stecken bleiben lassen. Anders gesagt: Im Sträuben
gegen die uns überlieferten Gesetzmäßigkeiten des dramatischen Aufbaus liegt
der literarische Gewinn von Gorch Maltzens „Dialogen“. Doch vielleicht stimmt
das alles gar nicht. Vielleicht muss man die Dialoge nur so oft lesen, bis man
eins wird mit den Personen. Dann wäre das Nonsenskabinett perfekt, und nur noch
die Regieanweisungen wären gültig:˂Ruhe>, ˂Pst>.
Kurzgeschichten erzählen
von den Chancenlosen, die versuchen glücklich zu sein, auch wenn ihnen gerade
nicht danach zumute ist
Doch Gorch Maltzen hat sich in
seinem Debütband nicht nur als talentierter Dramatiker, sondern auch als
begabter Autor der kleinen Prosa-Form vorgestellt. In Kurzgeschichten wie Der Bass muss ficken, Unser Ort. Nirgends,
Wie man Pflanzen am Leben hält, Hypertension, Entinnerlicht, entgrenzt, entleert,
Azolla, Funktionsrausch, Was passiert, wenn man in einen Vulkan
springt, Fratzen, Der Kriegselefant und Nein, wird er nicht experimentiert
Gorch Maltzen mit verschiedenen Formen des Erzählens und der Konstituierung von
Erzählerinnen und Erzählern, die seine Phantasie-und Kunstprodukte sind. Auch
wenn in der Ich- oder der Wir-Form erzählt wird, stets liegt eine feine
Zwischenschicht zwischen dem Autor und den Erzählenden: ein seltsamer
Resonanzboden für einen eigentümlichen, leicht bitteren Humor. Mehrmals sind in
den Prosatexten eine in der „äußeren Realität“ erfolglose Erzählerin oder ein
erfolgloser Erzähler und ein Bruder, der Weg und Rezept zum Erfolg weiß und
immer wieder gute Ratschläge gibt und deshalb nervt, miteinander verkoppelt.
Was vor 100 Jahren noch als Widerspruch zwischen Bürger und Künstler gestaltet
werden konnte, ist heute zum Gegensatz zwischen erfolgreichem Funktionieren und
dem Bewahren kleiner Freiräume, vielleicht sogar Spleene gegen die Anforderungen der „äußeren
Wirklichkeit“ geworden. Gorch Maltzen schildert schonungslos eine Welt, in der
die Schon- und Schutzräume immer kleiner werden, in der Verweigerung immer
absurdere Züge annimmt und in der die scheinbar Erfolgreichen keine Chance mehr
auf ein gewinnendes Leben haben.
Wie weit sich die
Beschleunigungs- und Entfremdungsspirale bereits gedreht hat, zeigt der
bitterböse Text Entinnerlicht, entgrenzt,
entleert. Der Witz dieser elektronischen Botschaft besteht darin, dass
deren Lesezeit 14 Minuten dauert. Dann wird von einem jungen Mann erzählt, der
zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges seinen Bruder demütigt, quält und
innerlich entleert, um ihn für die Taufe in einem Fluss vorzubereiten oder
besser gesagt zuzurichten. In 14 Minuten Lesezeit werden Grausamkeits-und Wahn-Szenarien
durchgespielt. Die bitterböse Pointe allerdings liegt außerhalb der Geschichte.
Am Schluss des Textes heißt es: Dauer bis
zur nächsten Dosis Eskapismus: x Minuten. Kunden, die diesen Text gekauft haben,
kauften auch andere literarische Dienstleistungen.
Das muss man sich erst einmal
trauen zu schreiben. Das ist literarisch frech, und eben deshalb gelingt Gorch
Maltzen dieser Text.
Vielleicht verströmen seine
Prosa-Texte etwas Kühles und Sprödes, vielleicht versagt sich der Autor
jegliche Empathie gegenüber seinen Figuren, vielleicht hält er Mitleid ihnen
gegenüber nicht für zeitgemäß, vielleicht kann er seinen Figuren ohne die
Sympathie des Autors schärfere Konturen verleihen. Eins steht fest: Die
Prosa-Texte Gorch Maltzens entfalten eine starke Wirkung. Ingo Schulze hat
einmal in einem Interview gesagt: Wirklich
ist, was wirkt. Ganz in diesem Sinne sind Gorch Maltzens Texte wirklich.
Vielleicht sind es Figuren, wie der Priester, der nichts ausrichten kann, der
Geschichtslehrer, der vom Krebs heimgesucht wird, oder die Kinder, die ihren
krebskranken Vater pflegen, vielleicht sind es diese Ohnmächtigen und
Chancenlosen, die den Leser in ganz besonderer Weise anrühren, denn sie
versuchen glücklich zu sein, auch wenn ihnen nicht gerade danach zumute ist.
Gorch
Maltzens Debütband zeigt einen starken Dramatiker und einen nicht minder
begabten Autor kleiner Geschichten.
Gorch Maltzen ist auf der Suche nach ihm gemäßen Sprach- und Ausdrucksformen.
Seine ganz eigene Stimme ist bereits jetzt in der Thüringer Literaturlandschaft unüberhörbar.
Jena im April 2025
Dietmar Ebert