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Giorgos Seferis: Letzte Gedichte (1968 - 1971)

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Timo Brandt

Wie sich in letzten Themen noch das Licht streckt

„Wir waren unterwegs in einem von Krieg zerstörten Land,
selbst die Puppen der Kinder hatte man zerfetzt.
Das Licht, schnell und heftig,
zerbiß und versteinerte alles.“
       
Eine wirklich gute Editionsarbeit erkennt man schon daran, dass man nach der Lektüre von Buch und Anhang die Wikipedia-Seite des/r Dichters/in ordentlich aufpolieren könnte. Diese deutsche Edition der letzten und nachgelassenen Gedichte von Giorgos Seferis ist in dieser Hinsicht mustergültig. Sie enthält nicht nur die üblichen erläuternden Anmerkungen, sondern auch persönliche Dokumente, die die Motivation und den Hintergrund der einzelnen Texte beleuchten, sowie externes Quellenmaterial, auf das Seferis in seinen persönlichen Dokumenten Bezug nimmt – alles in deutscher Übersetzung.

Mir fiel es aufgrund dieses umfangreichen Sekundärmaterials (das fast die Hälfte des Buches einnimmt) gleichsam leichter und schwerer, einen Zugang zu den Texten zu finden. Leichter, weil ich die vielen mythologischen und literarischen Bezüge und biographischen Details, mit denen diese Gedichte gespickt sind, wohl größtenteils übersehen oder ihre eigent-liche Bedeutung nicht verstanden hätte.
    Das wird schon beim ersten Gedicht, „Brief an Rex Warner“, deutlich. Denn die genauere Kenntnis über die Beziehung, die Seferis zu diesem Übersetzer einiger seiner Texte ins Englische hatte (anschaulich gemacht durch Tagebuch-einträge, Briefe und eine Schilderung ihrer Zusammenarbeit), öffnet die einzelnen Verse, lässt dahinter weitere Räume und größere Geschichten zum Vorschein kommen.

„Die Schiffsglocke schlug
wie Münzen einer untergegangen Stadt,
die herunterfallen und die Erinnerung
an einstige Almosen wecken.“

Genau da beginnen aber auch die Schwierigkeiten. Denn wenn jede Zeile sich zu einer breiteren Geschichte öffnet, ist es schwierig, sie für sich – als lyrischen Baustein, als Verdichtung – zu sehen. Die Kenntnis stärkt die Tiefe des Gedichts, nimmt mir aber die undefinierte Erfahrung; die Möglichkeit den Eindrücken vis-a-vis mit meiner eigenen Vorstellungskraft zu begegnen. Der russische Lyriker und Essayist Joseph Brodsky schrieb in seinem Essay über Byzanz:

„Ein wesentlicher Aspekt der Schönheit ist, dass sie aus der Begegnung mit dem Objekt der Bewunderung entsteht, ohne dass wir Kenntnis davon haben, welch geschickter Konstruktion sich diese Schönheit verdankt. Wüssten wir es, so wäre der Augenblick des Schönen nichts als ein Reflex und es fehlte ihm folglich jegliche Macht uns zu verunsichern, zu erschüttern und zu inspirieren. […] Es wäre vielleicht sogar angebracht zu unterscheiden zwischen dem, was uns schön erscheint, weil es perfekt gearbeitet ist und dem, was uns schön erscheint, weil wir unsere Sehnsüchte darin ausgedrückt finden.“

Kennt man die Hintergründe, ist der Brief an Rex Warner das Kondensat verschiedener gemeinsamer Geschichten, der überkreuzten biographischen Linien + einiger daran angeschlossener Gedanken. Liest man ihn und lässt die Kenntnisse beiseite, ist es eine Folge von Bildern, ausgebreiteten Momentaufnahmen, beginnend bei der Landschaft des zerstörten Griechenlands nach dem 2. Weltkrieg, übergehend in eine sanftere englische Ländlichkeit und eine Anzahl von Gegenständen; sich letztendlich verdichtend im Motiv eines Spatzen und einer Kürbisstaude.

„«Es tut mir Leid um die Kürbisstaude»,
murrte der Prophet Jonas
und schaute auf das große Ninive.
Diese Worte lenken die Gedanken
zu den Wachträumen, die im Lauf des Tagwerks
sich angesammelt haben:
Stiere und Pferde mit aufgerissenem Maul,
die Zunge plötzlich ein Dolch.“

Die Zeilen um die Kürbisstaude gehen auf die Bibelstelle Jona 4, 7-11 zurück (im Deutschen ist vom Rizinus oder Wunderbaum die Rede), in welcher Gott ein schattenspendendes Gewächs für Jona wachsen lässt, über das er sich freut, das Gott dann aber schon nach einer Nacht wieder zerstört, um Jona zu veranschaulichen, warum er der Stadt Ninive vergibt. Denn als dieser am nächsten Tag jammert ob des fehlenden Schattens, spricht Gott:

„Dich jammert des Rizinus, um den du dich doch nicht bemüht und den du nicht großgezogen hast, der in einer Nacht entstanden und in einer Nacht verdorben ist. Und mich sollte der großen Stadt Ninive nicht jammern, in welcher mehr denn hundertzwanzigtausend Menschen sind, die ihre rechte Hand nicht von ihrer linken unterscheiden können; dazu so viel Vieh!“ (Übersetzung nach Franz Eugen Schlachter)

Seferis bemerkt dazu: „Das Problem ist, wofür die Kürbisstaude steht – ein sehr ernsthaftes.“

Von den 10 Gedichten, die in dem Band enthalten sind, sind fünf „letzte Gedichte“, also Gedichte, die Seferis zu Lebzeiten noch abschloss, und die anderen fünf „nachgelassene Gedichte“, die einen fragmentarischen Charakter haben und ohne die Anmerkungen kaum mehr sind als Aphorismen, kurze Skizzen.

Der beste Text ist meiner Meinung nach „Die Katzen von Agios Nikolas“, in dem Seferis die Legende von dem Schlangenbefall auf der Halbinsel Akrotiri, im Umkreis des dortigen Klosters, aufgreift, die eine Horde von Katzen Tag und Nacht eindämmen musste (noch zu Seferis Zeiten wohnten an die vierzig Katzen im Kloster) und gleichzeitig den Tod seines eigenen Katers und seiner eigenen Katze verarbeitet. Sehr schön auch, wie er Bezug nimmt auf jene Inschrift, die in Erinnerung an Leonidas und seine 300 Spartaner bei den Thermophylen errichtet wurde, und sie mit souveräner Zärtlichkeit konterkariert.

„Sie hatte Salomes Augen, die Katze, die ich letztes Jahr verlor,
und der Ramazan, wie hat er dem Tod ins Auge geschaut,
tagelang im Schnee Anatoliens
unter der vereisten Sonne,
ins Auge, tagelang, der kleine Hausgott.
Wanderer, bleib nicht stehen.“
            
Alles in allem ist dieser Band ein leuchtendes Beispiel für die Intensität, mit der man sich mit Gedichten, ihren Quellen und Bezügen, dem Aufgeladenen darin, auseinandersetzen kann. Der Waldgut Verlag und alle Beteiligten haben eine beeindruckende Arbeit geleistet. Dass es in Teilen mehr um eine Archäologie der Lyrik als um den schlichten Konsum derselben geht, mag manche abschrecken, aber andere vielleicht sogar anziehen. Lesenswert sind die „letzten Gedichte“ in jedem Fall.

„Unser Leben ist immer Abschiednehmen
und, schwieriger noch, Hiersein.“
     

Giorgos Seferis: Letzte Gedichte (1968 – 1971). Griechisch / deutsch. Übersetzt von Evtichios Vamvas.
Frauenfeld (Waldgut Verlag) 2017. 70 Seiten. 22,00 Euro.
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