Giorgio Agamben: Was ich sah, hörte, lernte
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Felix Philipp Ingold
Der weisse Fleck als Faszinosum und Verhängnis
Vorletzte Worte von Giorgio Agamben
Allein in den Klüften erkennen wirdie Struktur der Erde wie des Geistes.Grigorij Landau
Nicht nur im internationalen
Feuilleton, auch in Nachschlagewerken wird Giorgio Agamben seit langem als «der
bedeutendste lebende Philosoph» oder zumindest als «einer der einflussreichsten
Denker» der Gegenwart rubriziert. Ein namhafter deutscher Journalist bringt die
Superlative metaphorisch wie folgt auf den Punkt: «Es gibt einen Ozean, der heißt Giorgio Agamben.
In dem wiegen sich alle Autoren und Texte, alle Bilder und Theorien.» Demnach
hat man es hier mit einem universalistischen Meisterdenker zu tun, der sich
souverän in allen Fach- und Problembereichen zu behaupten weiss.
Tatsächlich
hat Agamben – er ist vom Jahrgang 1942 – als Autor, Herausgeber und Übersetzer
Dutzende von Büchern in allen UNESCO-Sprachen vorgelegt, er hat an namhaften
Universitäten in ganz Europa und in den USA erfolgreich gelehrt, und er hat
sich darüber hinaus mit pointierten Interventionen zur politischen Aktualität eine
weithin wirksame Medienpräsenz erarbeitet. Die erhabene Pose und Gestik des
Lehrmeisters beherrscht Agamben ebenso souverän wie die Improvisation des Frei-
und Querdenkers. Kein Problem ist ihm zu schwer, kein Thema zu gering, als dass
er es sich nicht produktiv zueigen machte.
Ob das Opfer, das Offene, das Erhabene, der
Körper, die Gewalt, die Armut, die Sprache, die Freundschaft, das Tier, der Tod
oder Bartleby, Pinocchio, Origenes, Opus Dei, Auschwitz, Nymphen und
Engel – all dies und noch viel mehr hat er mit unentwegter Produktivität
abgehandelt, um nicht zu sagen: abgehakt. Stets hat er sich dabei, unverkennbar
und eingestandenermassen, von namhaften Vordenkern wie Benjamin, Schmitt,
Heidegger, Foucault leiten lassen. Dass er dennoch eine eigene Statur und
Stimme auszubilden vermochte, macht seinen unverwechselbaren Rang aus.
•
Wenn Giorgio Agamben nun in seinem jüngsten
Werk* – es ist zum Jahresende 2024 gleichzeitig in drei Sprachen erschienen –
die alltagsweltlichen Anlässe seines Denkens offenlegt, erwartet man sich davon
eine bekenntnishafte Rückschau und die Aufdeckung von bisher verdeckten oder
übersehenen Quellen. «Was ich sah, hörte, lernte …» – so lautet der
vertrauliche Buchtitel, der durch drei Auslassungspunkte den notwendigerweise
fragmenta-rischen Charakter des Unternehmens anzeigt. Die Texte sind durchwegs
knapp gehalten, sie umfassen drei bis zu einem Dutzend Zeilen und stehen
jeweils separat auf einer Seite, so dass viel Leerraum freibleibt. Alle Notate
gehen von einem Ort, einer Person oder einer prägenden Erfahrung aus, die dem
Autor in Erinnerung geblieben, dem heutigen Leser jedoch mehrheitlich unbekannt
sind. Dies mindert den Erkenntniswert der unprätentiös (bisweilen flüchtig)
notierten Texte freilich nicht.
Das
von Giorgio Agamben Gesehene, Gehörte und Erlernte könnte durchaus als Allgemeingut
durchgehen. Man braucht dafür nicht endlos viel gelesen und auch nicht lauter
bedeutende Zeitgenossen gekannt zu haben. Persönliche Beobachtung und
Wahrnehmungsfähigkeit sind hier allem angelesenen Wissen vorgeordnet.
So
gewinnt Agamben beim Hören der Glocken von San Giacomo da l’Orio, die ihn
«umhüllen mit ihrem unbändigen Geläut», die schlichte Einsicht, dass Anrufung
und Verkündigung auch ohne Worte erfolgen können: «Dass man etwas sagen kann,
ohne sprechen zu müssen.» Doch was oder wer ist «man»? Der Autor setzt das
mechanische Geläut recht unbedacht mit menschlicher Rede ineins. Doch Glocken «reden»
ja nicht, um etwas Bestimmtes zu bedeuten, sie läuten, weil sie geläutet
werden, während menschliche Rede in aller Regel vorab auf Aussage, auf
Bedeutung angelegt ist.
Mit
Blick auf das schwappende Brackwasser in einem venezianischen Kanal erkennt
Agamben, «dass wir nur in der Unterbrechung unseres Seins existieren». Das
Aufprallen und die Wende der Wellen an der Kanalwand führen ihm «die ganze
Maschine unseres Körpers» vor Augen, der nur überlebt, solang «die Wende des
Atems» sich vollzieht. In diesem Fall ist es also ein naturhaftes Geschehen,
das ihm zu einem Denkbild gerinnt, und das Bild wiederum offenbart ihm eine
existentielle Befindlichkeit, die einzig der Atem als «Vermittler seiner
eigenen Abwesenheit» bewahren kann, er, «der nicht lebt und nicht spricht, doch
für den es Leben und Sprache gibt». Der Atem als Voraussetzung dafür, dass
«wir» leben und reden – das ist allerdings keine Offenbarung, es ist eine
schlichte Tatsache, die «uns», sollten wir sie vergessen, auf mancherlei Weise
(Überanstrengung, Angst, Katarrh) bewusst werden kann. Was Agamben bei seinem
einstigen Blick in den Kanal «gesehen» hat, ist demnach nichts anderes als die bildhafte
Bestätigung einer unspektakulären Alltagserfahrung.
Ebenfalls
in Venedig «sah» Agamben, «dass die Menschen Mumien sind, die Stadt aber ein
Gespenst. Lebendiger also als ihre Bewohner – besonders nachts.» Was ist mit
dieser Vision anzufangen? Was gibt sie («besonders nachts») zu verstehen? Soll
sie das Wesen der Stadt oder das Wesen der Menschen erhellen? Ein Denkbild ist
das nicht, eher schon eine romantische Impression, nicht anders, als wenn der
Autor im Rückblick auf 1966 dem «von unzähligen Sternen durchbrochenen
Nachthimmel» über dem südfranzösischen Le Thor das Versprechen gibt, «ihm treu
zu bleiben», wobei er «den letzten Rockzipfel der abend-ländischen Philosophie»
– gemeint ist Heidegger – in der Hand zu halten meint.
Doch was hat es mit dem «durchbrochenen
Nachthimmel» auf sich? Wem gilt das Treueversprechen? Und was hat die «Treue» zum
gestirnten Himmel mit dem definitiven Verschwinden («für immer») der
Philosophie zu tun? Sollen vielleicht die «unzähligen Sterne» und ihre
bildstarken Konstellationen das Ende des philosophischen Denkens überstrahlen,
dieses gar ersetzen? Erwägt Agamben an dieser (wie übrigens auch an anderer) Stelle
ernsthaft den Rückgriff auf die astrologischen Anfänge menschlicher
Welterkenntnis? Das käme in der Tat einer radikalen Abwendung von aller
hergebrachten Schulphilosophie gleich – was er auch dort zu bestätigen scheint,
wo er, der Schriftgelehrte, die «mündliche Überlieferung» durch Analphabeten
für «ungleich besser» hält als die Überlieferung durch Texte.
•
Begriffliche, logische, argumentative
Unklarheiten finden sich in Agambens
Textsammlung zuhauf. Zu vermuten ist, dass sie ihm nicht einfach unterlaufen
sind, dass er sie vielmehr mit Bedacht hat stehen lassen, um – anders als in
seinen akademischen und publizistischen Schriften – unterschiedliche, auch
gegenläufige Lesarten und kritische Rückfragen zu ermöglichen. Von «Franziskus»
(dem Papst?) übernimmt Agamben die Lehre: «… sprich und schreibe einfach und
unverfälscht, und ebenso einfach und ohne Erklärung (sine glossa) werde
verstanden.» Wozu er selbstkritisch anmerkt: «Wir hingegen tun nichts anderes,
als uns gegenseitig zu erklären.» Damit stellt er (sofern denn die pauschale
Aussage ernstgemeint ist) sein gesamtes philosophisches Werk implizit in Frage,
ein Werk, dem jede Einfachheit und Unverfälschtheit abgeht, das sich im
Gegenteil als ein einziger hermeneutischer Kraftakt in umständlicher
Fachsprache und mit ständiger Bezugnahme auf einschlägige Fremdtexte darbietet.
So gelesen, erbringt dieses späte Buch ein
durchwegs resignatives Fazit: So viel intellektuelle Bemühung, so wenig praktischer
Ertrag; so viel an Bedeutung erschlossen, so wenig an Sinn. Zur Erläuterung dieses
Defizits führt Agamben im Anhang zu seinen Texten eine Kindheitserinnerung an,
wonach er bereits als acht- oder neunjähriger Junge nicht nur begriffen,
sondern «in aller Deutlichkeit» auch aufgeschrieben habe, was fortan «das
geheime Zentrum» seines Lebenswerks sein würde, nämlich die Auflösung eines «verworrenen
innersten Knotens»: All seine künftigen Bücher würde er, so die Einsicht des
frühreifen Knaben, in «langsamer, mühevoller Entwicklung» diesem
anspruchsvollen Projekt widmen – widmen müssen.
Dem
allerdings stand von Beginn an ein schwerlich zu bewältigendes Problem
entgegen, denn in der ebenso «deutlichen» wie «geheimnisvollen» Vision gab es
eine «zentrale Leerstelle», einen weissen Fleck, ja eine «Kluft», die niemals
adäquat zu schliessen war – auch nicht durch die zahllosen Abhandlungen und
Monographien, die Agamben nachfolgend ausgearbeitet hat. Im Gegenteil – bei
deren Niederschrift manifestierte sich erst recht die unaufhebbare Weisse (das
Ungesagte, vielleicht Unsagbare) und damit der stetige «Mangel» seines
auktorialen Tuns. Der Akt des Schreibens konnte einzig an der «Schwelle des
Schweigens» bewerkstelligt werden, und die Bewerkstelligung blieb stets im
Scheitern befangen – sie war identisch mit ihm. «Ja, es liesse sich sagen»,
schreibt Agamben, «jedes Buch sei nur um der Entfernung zu seiner eigenen Mitte
willen – um sie ungesagt und unberührt zu belassen und doch irgendwie zu
bezeugen – geschrieben worden.»
Jedes
Buch? Dann wäre hier, über die persönliche Erfahrung dieses Autors hinaus, ein
Problem von genereller Relevanz angesprochen, das fundamentale Faktum eben,
dass jede Schreibbewegung und auch die Sprache als solche an der authentischen
Wiedergabe aussersprachlicher Gegebenheiten scheitern, im eigentlichen Wortsinn
versagen muss. «Meine Suche galt dieser Leerstelle», expliziert Agamben:
«… dieser lückenhaften Berührung zwischen Verstrickung und Gelöstheit, Ausdruck
und Abgrund, Dämmerung und Glanz, dem Ort, wo das Geheimnis in solch reiner
Klarheit sich zeigt, dass es, wie ein Rätsel oder Kinderreim, einfach und
unergründlich zugleich wird.»
•
Die Leerstelle ist stets ein Dazwischen, man
könnte Giorgio Agamben einen «Dazwischer» nennen, Begriffe wie Spalt, Ritze, Riss, Abgrund, Falte, Nische, Hiatus, Zäsur oder auch die
Weisse sind bei ihm rekurrent, und durchwegs stehen sie für einen Gegensatz,
der zugleich eine Einheit bildet – so wie oben «Einfachheit» und
«Unergründlichkeit», «Geheimnis» und «Klarheit», «Dämmerung» und «Glanz» usf. –
«Hier war die leere Mitte, um die herum mein Denken sich gefaltet hatte»,
stellt Agamben nun im Rückblick fest: «Die glückliche, unlebbare Lücke, die ich
von Anfang an, im Schreiben, nur unausgesprochen lassen konnte.»
Hat er diese Lücke – «glücklich»,
aber «unlebbar»! «glücklich», weil «unlebbar»? – unausgesprochen gelassen, so
hat er sie doch über Jahrzehnte hin in wechselndem Kontext immer wieder angesprochen.
Von Kafka hat er gelernt, «dass es Erlösung gibt, aber nicht für uns;
genauer gesagt, dass wir erst erlöst sind, wenn es uns nicht mehr betrifft».
Noch ein Beispiel für das unaufhebbare Dazwischen, das gleichermassen trennt
und verbindet. In diesem Verständnis ist auch der Exilant – Walter Benjamin oder
der Flüchtling im Schlauchboot vor Lampedusa als dessen tragische
Personifizierung – ein «Dazwischer», befangen in der unhaltbaren Situation
«eines Menschen, der überall allein ist», obwohl (oder eben weil) er
«einen Ausweg gefunden hat».
Ein «Dazwischer» ist schliesslich
auch der Homo sacer, den Giorgio Agamben ab 1997 (bis 2015) in neun
Bänden unter diversen Gesichtspunkten abgehandelt hat. Der Homo sacer steht, heilig
und ausgestossen zugleich, in einem «Zwischenreich von Leben und Tod», er
besetzt einen Raum, der das Überleben erzwingt, das Leben aber verunmöglicht,
einen unausweichlichen Ort, der ihm als Verbannung und Zuflucht aufgegeben ist.
Die Mensch-werdung besiegelt demnach sowohl die Zäsur wie auch den Zusammenhalt
zwischen humanen und animalischen Anlagen: «Diese Zäsur verläuft zuerst im
Inneren des Menschen.» Als Zäsur bezeichnet Agamben hier jene «zentrale Leere»,
die den Menschen vom Tier trennt und ihn zwingt, sich selbst «aufs Spiel zu
setzen»: «Aufhebung der Aufhebung, Sabbat sowohl des Tiers wie auch des
Menschen.»
Alles, was der Philosoph «sah,
hörte, lernte», wurde ihm, wie er nun wortkarg bezeugt, zur Bestätigung einer
existentiellen Paradoxie – nicht nur lebt (und schreibt) man am brüchigen Rand
eines «weissen» Abgrunds, man ist auch als «Dazwischer» mit diesem Abgrund eins.
Dass sich solcherart durchaus leben (und schreiben) lässt, demonstriert Agamben
mit der von ihm gewohnte Produktivität: Allein in den Jahren 2023/2024 – also nach
dem hier angezeigten Band – hat er acht (8!) weitere Bücher vorgelegt.
*)
Giorgio Agamben, «Was ich sah, hörte, lernte …» (Quel che ho visto, udito,
appreso…).
Aus dem Italienischen
übertragen und mit einem Essay versehen von Sarah Scheibenberger. Wien (Verlag Sonderzahl) 2024. 96 Seiten. 16,00 Euro.