Gilles Deleuze: Über die Malerei
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Jan Kuhlbrodt
Gilles Deleuze: Über die Malerei. Vorlesungen März – Juni 1981. Übersetzt von Bernd Schwibs. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2025. 432 Seiten. 38,00 Euro.
Zu Gilles Deleuze
Über Malerei
Am 18. Januar des Jahres wäre Gilles Deleuze 100 Jahre alt geworden. Ich weiß nicht, ob man von „einflussreich“ sprechen kann, sicher nicht in dem Sinn, wie es von Foucault oder Lyotard möglich ist, die so etwas wie Schulen oder Denktraditionen inaugurierten. Ich glaube, die Bedeutung Deleuzes geht sogar tiefer, weil er in seinen Schriften und Vorträgen, statt das Denken in einer Schule zu kanalisieren, es mit einer enormen Beweglichkeit ausstattete, die aber nicht zu Lasten der Präzision geht. Symptomatisch hierfür ist sicherlich sein mit Félix Guattarie entworfenes Projekt der „Tausend Plateaus“. Im Vorwort dazu, das unter dem Titel „Rhizom“ ausgekoppelt als eigenes Buch erhältlich ist, entwerfen die beiden Theoretiker eine der Überlieferung entgegengesetzte Methodologie, die eben der bislang vorherrschenden theoretischen Struktur der Einheitlichkeit, sozusagen der Pfahlwurzel, ein rhizomatisches Geflecht der Gedanken entgegenstellt.
Deleuze beließ es aber nicht bei theoretischen Überlegungen. Er engagierte sich an der Experimentaluniversität Vincennes. Dort hielt er 1981 Vorlesungen, die nun in dem Band „Über die Malerei“ vorliegen; der von David Lapoujade herausgegeben und kommentiert wurde, aus dem Französischen übersetzt von Bernd Schwibs.
Philosophie arbeitet mit Begriffen oder viel mehr an Begriffen. Sie ist gewissermaßen eine parasitäre Wissenschaft, die dem vorliegenden Außerphilosophischen, aber auch Texten die Substanz aussaugt, um sie auf ihre eigene Weise zur Darstellung zu bringen. Im günstigsten Fall generiert sie dabei Erkenntnis über ihren Gegenstand und damit auch über sich selbst, vor allem über sich selbst in Form von Begriffen.
„Was bedeutet es, von der Malerei zu sprechen? Ich denke, dass es genau dies bedeutet: Begriffe bilden, die in direktem Bezug zur Malerei stehen, und zur Malerei allein.“, sagt Deleuze ganz am Anfang seiner Vorlesungen. Und er setzt damit ein, einen Begriff der Katastrophe zu extrapolieren. Als naheliegenden Bezug und Hintergrund benutzt er zum Beispiel Gemälde von William Turner und Paul Cézanne. Es geht dabei aber nicht um die Darstellung „wirklicher“ Katastrophen, oder nur anfänglich bei Turner (brennende Schiffe usw.) sondern um das Katastrophale im Mal-Akt selbst. Und es geht um das Eindämmen der Katastrophe, das erst einen künstlerischen Ausdruck ermöglicht. Aus dem Katastrophalen ergibt sich ein Chaos.

In diesem
Zusammenhang räumt Deleuze übrigens auch mit dem Mythos vom weißen, oder leeren
Blatt auf, das den Maler und auch Autor im Volksglauben vor die größte
Herausforderung stelle, vielmehr sei das Blatt gefüllt mit einer Unzahl von
Möglichkeiten, und die Schwierigkeit liege in der Entscheidung. Das ist ein
Gedanke, den ich angesichts der Textanfänge, die mir selbst durch den Kopf
schwirren, wenn ich einen Text beginnen will, sehr gut nachvollziehen kann.
Deleuze
entwickelt im Weiteren einen Begriff des Diagramms, des Codes, der Linie und
der Farbe angesichts verschiedener malerischer Strömungen wie des
Expressionismus, des abstrakten Expressionismus usw. Immer wieder bringt er
auch die Malerei Bacons ins Spiel. Er verschweigt also auch gewisse Vorlieben
nicht.
Sehr sympathisch
sind die mitdokumentierten Kommunikationen mit Hörerinnen und Hörern während
der Vorlesungen. Deleuze ist der Philosoph der
Zugewandtheit in doppelter Hinsicht. Einerseits zugewandt dem Gegenstand. Er
versucht nicht, ihn zu bändigen, d.h. auf den Begriff zu bringen, sondern – durch
von ihm empfangene Energie – den Begriff beweglich zu halten. Aber auch
zugewandt dem Auditorium. S. 154: "Seid ihr vielleicht müde? Möchtet ihr
eine Pause? Wie spät ist es? Mittag? Also Pause."