Gertrud Kolmar: Wahn
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						Gertrud Kolmar
Wahn 
						
						Die Nacht
						steht draußen und die Wiege leer. 
						
						Und die sie
						schaukelt, eine bleiche Frau. 
						
						Trägt
						Strähnenhaare, schwarz und zäh wie Teer. 
						
						Vor ihrem
						Herzen ballt sich Grau zu Grau:
						
						Der Tisch,
						das Bett, der Schrank und was da ist. 
						
						Der Tag, der
						Wald, die Liebe, was da war, 
						
						Das raschelt
						leicht und trocken wie Genist 
						
						Entflognen
						Spötters vom vergangnen Jahr.
						
						Der
						Wiegebogen taumelt her und hin; 
						
						Sie klammert
						ihn mit nacktem Fuß und haucht 
						
						Ein
						Schlummerlied, das müde, ohne Sinn 
						
						Und ohne
						Hall in Schattenwasser taucht.
						
						Sie hegt ein
						Kindlein, das vielleicht schon starb, 
						
						Und nickt
						dem Kindlein, das sie nie gebar; 
						
						So lieblich
						war es, weiß und nelkenfarb, 
						
						Mit
						Silbergrannen dicht im Roggenhaar.
						
						Es hat mit
						so viel Freundlichkeit und Licht 
						
						Ihr einsam
						armes Leben ganz verwirrt; 
						
						Sie schaut
						es immer an und sieht es nicht 
						
						Und zittert,
						wenn der barsche Frost erklirrt:
						
						Am Fenster
						rüttelt, wenn der Wächter bellt, 
						
						Den gelben
						Mond ein fernes Käuzchen höhnt, 
						
						Beschwichtigt
						murmelnd ihre kleine Welt 
 
 
