Geraldine Gutiérrez-Wienken/Marcus Roloff: In der Hölle der Wörter. „Freies Geleit“ von Adalber Salas Hernández
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						Credit Fotos v.l.n.r.
Selfie,  Paule Anne, 
Michael Wienken
								Geraldine Gutiérrez-Wienken / Marcus Roloff: 
In der Hölle der Wörter. 
„Freies Geleit“ von Adalber Salas Hernández
Ein Land geht
						den Bach runter, rückt offensichtlich dem Status des „failed State“ immer näher
						(aktuell in der Klasse „Warning“ geführt) – Venezuelas Schicksal scheint sich
						derzeit irgendwo in der Mitte zwischen Pseudosozialismus und korrumpierter
						Regierungsbank zu entscheiden. Die sich immer weiter beschleunigende
						Hyperinflation hat den wirtschaftlichen Kollaps bereits eingeleitet.
						Generationen verstörter, traumatisierter Kinder und Jugendlicher sind die
						Zukunft, die Gegenwart lässt sich erschießen oder ist massenhaft auf der
						Flucht. Die Frage ist angesichts des Zerfalls staatlicher Strukturen, der
						Auflösung von Rechtssicherheit und Parlamentarismus, ob man bleibt und die
						Gegenwart auszusitzen versucht oder geht und in die Bresche springt. Letztere
						Wahl hat der junge venezolanische Dichter Adalber Salas Hernández (*1987)
						getroffen und ist nach New York gegangen, um dort zu promovieren und großartige
						Gedichte über sein im Abgrund versinkendes Heimatland zu schreiben. 
						
						     Sein Band Salvoconducto (dt. Freies Geleit) von 2015 ist eine einzige Anklageschrift. Angeklagt
						werden seine Geburtsstadt Caracas und mithin der gesamte Staat Venezuela, der
						ein Land zerstörter Kindheiten und geschändeter Landschaften ist. Fortdauernde
						Anarchie, Extremismus und Gewalt aller Art verwandeln das Leben in einen
						Notalltag. Selbst schöne Erinnerungen an die eigene Kindheit werden von
						Entfremdung und der Erfahrung von Ungerechtigkeit und Tod verdrängt. Es ist die
						Anklage einer Generation, die mit dem Entsetzen in den Augen großgeworden ist,
						unter einer politischen Führung, die ihre Macht gegen die eigenen Bürger
						missbraucht. Diese Generation erstickt am Gestank der Mülltonnen und der
						täglich zunehmenden Zahl der Toten. 
						
						Caracas
						a.k.a. Medea verschlingt ihre Kinder. 
						
						In elegischer
						Sprache, die notwendig pathetisch ist, aber auch locker gefügt und satirisch
						sein kann, zeichnet Adalber Salas Hernández ein Bild von der Hölle als einzig
						möglicher Wirklichkeit. Das Epigramm, das dem Buch vorangestellt ist, stammt
						aus Dantes Inferno (III. Gesang): 
„In langer Reihe folgten ihm (Fähnlein), gezwungen,So viele Leute, dass ich kaum geglaubt,Dass je der Tod so vieles Volk verschlungen.“
Mitten in
						dieser quälenden Dunkelheit, die auch Gäste wie Góngora, John Coltrane, Paolo
						oder Francesca in sich aufnimmt, öffnen sich Augenblicke der Schönheit.
						Hernández eignet sich das Tonsystem eines der berühmtesten Gedichte aus den Prosas Profanas (1896) des
						nicaraguanischen Schriftstellers Ruben Darío (1867-1916) an und setzt damit
						eine Wildheit frei, die den unmittelbaren Bezug zur Wirklichkeit auflöst, um
						sie stattdessen in ein wortmächtiges Areal zu überführen. 
„Der Präsident ist traurig, / was hat er denn? / […] ArmerProtoplasma-Präsident, Gefangener seiner Grundstücke, / […]er fragt sich, ob er pasteurisiert werden soll – Postulat einesprähumanen Promis! “ (X. Sonettesk und redundant).
Das Buch
						„Freies Geleit“, aus dem wir die Auswahl „Auf dem Kopf durch die Nacht“
						erstmals für das deutschsprachige Publikum extrahieren, führt den Leser auf
						mehreren Ebenen durch das Weltgeschehen, und das in einer Sprache, in der die
						Erfahrungen des Dichters mit Katholizismus, Kindheit und Heimatmisere
						zusammenfließen. Das letzte Gedicht (XXXIII.
						Salvoconducto), das dem Originaltext
						seinen Titel gibt, suggeriert nicht nur das (höllische) Ringen des Autors nach
						Worten, hier wird der politische Charakter des gesamten Bandes noch einmal
						hervorgehoben. Denn die Tatsache, dass der Schreibende am Ende im Fadenkreuz
						seiner eigenen Wörter steht, stellt nach Giorgio Agamben „eine echte politische
						Handlung“ dar.
								 
 
