Georg Leß: Schlachtgewicht 2 - die Verschwiegenen
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Kristian Kühn
Georg Leß: Schlachtgewicht 2 – die Verschwiegenen. Gedichte. Köln (parasitenpresse) 2025. 32 Seiten. 9,00 Euro
„es muss ein Wolf gewesen sein“
Georg Leß ist bekannt dafür, sich für Wunden zu interessieren, sie zu analysieren. Besonders deutlich in Schlachtgewicht 2, dem 2025 bei der parasitenpresse erschienenen Folgeband zu Schlachtgewicht 1 (von 2013).
Der Titel sagt eigentlich schon, worum es geht, nämlich die Autopsie der Schöpfung, aber auch des menschlichen Umgangs damit, das Zerlegen von Körper und Materie, dabei einer gesteckten Ordnung folgend, diese ans Tageslicht fördernd, inwieweit sie gesetzt, inwieweit künstlich ist, im Kleinen wie im Großen Ähnlichkeiten aufspürend – eine Art Bestands-aufnahme ihrer Teile auch nach Willkür und Norm, vor allem im zweiten Teil des Werks.
Ich könnte jetzt mit der Tür ins Haus fallen: denn Leß stapelt seine Erkenntnisse, liefert in seiner Analyse der Dekonstruktion nicht nur materielle Entzweiungen, sondern für diese auch Gründe, die menschliche Tierheit zum Beispiel, die sich von der tierischen durchaus unter-scheidet. Ich könnte sagen, gerade dieser Tage, wo auch Ulf Stolterfohts langerwartetes Buch „Rückkehr von Krähe“ erschienen ist, dass Schlachtgewicht 2 ebenso die Essenz der Krähe-gedichte von Ted Hughes widerspiegelt. Etwa das kosmische Gewicht der „Tyrannenechse Krähe“, worin es heißt:
Selbst der Mensch war ein wandelndes
Schlachthaus
Für Unschuldige –
Sein Gehirn äscherte ihren Aufschrei ein.[1]
ihm wurde, es wurde Vernetzen genannt, wir alle aber
hielten Ketten in der Handmit Klauen, Hufen, Saugnapf, darüber in GedenkenHandschuhe gespannt, der verkantete Naturbegriff ersetztdie Prähistorie, das Mittelschiffund gegen was? zyklopische Suhle, ein Mergelgesichtder Sauerstoff hielt still, der Sauerstoff löste sich leichtdie Macht des Lungerns, keinem Tier zu folgen, auch keinemUn-, die kühl nahestehn, höchstens zwei Hirne in zwei Tanks
bitte nie klopfenwenn sich mehrere Chirurgen, mehrere Chirurginnenauf die Wurzeln ihrer Kunst besinnen und pusten“(S. 9)
[1] Die Hughes-Textstellen übersetzt von Jutta und Wolfgang Kaußen.
Leß bezeichnet sich in diesem Gedicht als ein „operatives ich“, wenn auch „ein wenig wir“, im Wesentlichen aber zu-gehörig „ihm und ihr“.
Operation des Chirurgen am Spiegel – Dichtung als Selbstautopsie, so Hughes, aber auch Leß. Bei Hughes: „Krähe schaute genau in den Spiegel des Bösen“ (als Magier von oben nach unten, von Zivilisationen, Schlachten, zu Wolkenkratzern, er wischt am Spiegel und wischt, wie Blake die Pforten der Wahrnehmung, aber die Dinge bleiben in ihren Parametern bei Hughes gleich, nur die Zeiten ändern sich, werden beim Wischen moderner.)
Aber seine Augen sahen eine Raupe. Und sein Kopf,
gespannt in der Falle, stieß zu.
Und er lauschte
Und er hörte
Weinen
Raupen Raupen Er stieß zu Er stieß zu
Weinen
Weinen
(Hughes: Tyrannenechse Krähe, Schluss)
Was soll ich sagen? Im Titelbild des Schlachtgewichts 2 zieht eine Raupe die aufgesprungene Spur im Asphalt entlang, ein Foto des Autors selber. Nun, Schlachtgewicht 2 hat nicht umsonst das Epitheton „die Verschwiegenen“ beigesellt. Es ist verschwiegener in sich und prangert die Verschwiegenheit der Herrschenden an. Er sieht sich, dem Motto seines Bandes folgend, es ist von Anne Duden, als „Stellvertreter nur/ auf knickendem Vogelfuß“. Jedoch bleibt ganz klar ein „wehrloses Weben, vielförmiges Schweigen“ (S. 4) der filigranen Gedichte, ein Anschreiben gegen Schmerzen, gegen das Trennen der Teile vom Körper, die Organe hatten sich bereits zurückgezogen (S. 6) „Fuß um Fuß/ ihm wurde die Uhr, Rad um Rad/ der Knopf hielt es kaum aus“.
Leß arrangiert diese Zerlegung der Körperteile aber wieder neu, wenn auch nicht nach dem ursprünglichen Bauplan, sondern nach einer eigentümlichen „Veränderungsabsicht“, die um sich greift, (S. 7 „ihr wurden sämtliche Segmente/ nach Umfang arrangiert, die Wände wurden ihr entfremdet“).
Was ist mit der Raupe? Kommt bei Leß nach Bauplan ein neuer Schmetterling hervor? Das Ziel bleibt, doch sowohl Hughes als auch Leß sehen bei ihrer Autopsie Schwierigkeiten, je tiefer sie in den Spiegel ihrer selbst dringen, sehen „Katzenaugen“ (S. 14), hinterfragen die Gesichte von „Großkatzen“ – er und sie – beide trennen das Ich in Zwei, vorab noch flugfähig, nun wurde ihr aber (der Raupe?) „der neuerdings flugunfähige Leib“ (S. 15) schwer:
so einen Vogel kannst du dir nicht denken, der angeschmolzen
in der Bise kreiste, um zu härten
dessen Brut rief: lass es fließen, deins und ja kein anderes
da war sie erlöst, stieg los
an der Hebebühne hinab, wo sie ein schüchterner Jaguar fraß
(S. 15)
Doch Leß ist skeptischer, glaubt an diese magische Form von Aufrichtung, wie etwa Ted Hughes in seinen schamanischen Gedichten, nicht ganz, zum einen bleibt der Verdacht, dass die Tradition und Verheißung nur Theater ist, zum anderen, dass auch die Natur ihre Widerborsten hat:
ihr wurde aus einem Zylinder mitgeteilt
aus einem zylindrischen Grau, dass es nicht reichte, leider
immer leiser, ohne das vitale Quietschen, Hüpfen
rhythmischer Füßchen, immer leiser: es reicht nicht
wo jetzt eine Zweitmeinung her? Denn es herrschte Einigkeit
ihr Schrott war vor Äonen aufgeprallt, als Frühling verteilt
ihr wurde die Schuld hinterhergekippt, Winter, wo jetzt
neue Jahreszeiten her? denn sie wurden sich ähnlicher
(S. 16)
Schlachtgewicht ist das Gewicht eines geschlachteten Tieres nach dem Ausweiden und Entfernen bestimmter Körperteile wie Kopf, Innereien und Haut – also orientierungslos, ohne Selbst-Bestimmung, aber es ist noch warm. Alle Gedichte dieser Schrift heißen entweder „ihm wurde“ oder „ihr wurde“, bis auf das letzte, mit dem Titel „am Papierkorb“. Wie wir sehen, Leß hält beim Schreiben Abstand, Ironie und den Hang, sich dem Kleinen so zu nähern wie dem Großen: mit analytischem Blick, dem des Operateurs, der im Zweifelsfall zu flicken hat, zu schneiden und zu nähen, zu lösen und zu binden.
Doch heißt es dagegen „von Oben“, er habe zu be-handeln, und nicht zu handeln! Die Frage, ob dieses Behandeln ohne Umbruch ein Bersten (S. 20) ist, ein Schneiden laut der „Fleischerzeitung“ (S. 21), quasi eine „Gerinnung“ negativer Entwicklung – so tauchen nun Anklänge dessen auf, was Hughes klar das Böse nannte (siehe oben), es ist von Sünde und Betrügern nun bei Leß im zweiten Teil die Rede (S. 22), er, wer auch immer „er“ ist, wohl der Operateur (oder englisch operator – der Bediener, oder vielleicht sogar der Schmetterling?), distanziert sich vom chirurgisch operativen Ablauf der Satzung und dem Machtbereich (S. 23) – am Papierkorb dann der Schluss als Entschuldigung, wohl des Zulassens eines ersten Schlachtgewichts:
hab‘s damals nicht genau genug gesagt
am Blatt lag’s
zwischen Rau- uns Glattlederhaut
Regung gepresst, sog Strömendes auf
(S. 28)
24 mal „Was einem wird“ – jeweils 20 Zeilen (inkl. Leerzeilen bei Strophenwechsel), ein viertel der Seite unten frei, so dass man glauben könnte, ein neues Gedicht würde folgen, doch könnte man, aufgrund der Lebenszusammenhänge und gemeinsamen Zeichen, die einem geschehen oder man beobachtet, auch ein einziges darin sehen, das einem Ziel folgt, das Böse, das Hughes beim Namen nennt, von dem Naturverhalten der Tiere zu trennen, das eher von Leß als „schüchtern“ beschrieben wird, wenn sie reißen (S. 15), um dagegen das Tierverhalten der Menschen anzuprangern, das aus Gier eine Ordnung erzwingen will, das Unterlegene und Schwache unterdrücken und ausbluten lassen: Es muss ein Wolf gewesen sein, dessen Haare sich Richtung Mond sträubten, es müssen Reißzähne gewesen sein, und um dem „Vorzeitkeim“ in der Dunkelheit vorzubeugen, hat die „Frau in Weiß“ „dieses visionäre Anästhetikum“ in der Hand (S. 2). Möge es nicht schaden, sondern helfen, wieder fliegen zu lernen:
übriggeblieben, um zu schreien: da stand, daran hing, da
flog ich
(S. 28, Ende)